Ein Reisebericht von Thomas Bauer
Kälte, Kraft und klare Kanten
Die Schweiz – das klingt für viele nach Präzision und Ruhe, nicht nach Abenteuer. Doch wer glaubt, dass hier nichts Unvorhersehbares wartet, irrt gewaltig. Ich jedenfalls merke das schon nach wenigen Minuten, als ich in den Oberaarsee springe. 2.300 Meter über dem Meer, direkt am Aaregletscher, erwartet mich Wasser mit vier Grad Celsius – ein Schlag ins Gesicht. Zehn Minuten später verlasse ich den See bibbernd, aber elektrisiert. Vor mir liegt ein über 200 Kilometer langer Fluss, der sich von den Alpen bis zum Rhein zieht – und ich habe mir vorgenommen, ihn komplett zu durchschwimmen.

Die Aare schießt talwärts, stürzt durch die Aareschlucht bei Meiringen und kommt erst im Brienzer- und Thunersee kurz zur Ruhe. Diese beiden Seen sind Prüfungen für Körper und Geist: Zwanzig Kilometer Schwimmen in kaltem Wasser, das mit 17 Grad kaum wärmer ist als der Gletschersee. Mein Neoprenanzug hält die Kälte ab, doch er bremst mich; der rote Seesack mit meinen Wertsachen zieht zäh hinterher. Drei Stundenkilometer – für einen ehemaligen Leistungsschwimmer ist das quälend langsam.

Dann, zwischen Thun und Bern, schlägt das Pendel um. Hochwasser verwandelt die Aare in einen reißenden Strom mit bis zu 14 Stundenkilometern Fließgeschwindigkeit. Ganze Baumstämme rasen vorbei, die Strömung ist unberechenbar. Nach Beratung mit Rettungsschwimmern entscheide ich mich für das Kanu – und plötzlich fühlt sich die Aare an wie ein wildes Tier, das man nur mit Mühe bändigt. Gischt, Lärm, Geschwindigkeit – ein Rausch.
Zwischen Genuss und Gefahr
Dass die Aare auch tückisch sein kann, zeigt sich immer wieder. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in Europa jährlich über 30.000 Menschen ertrinken – oft wegen Strömungen oder plötzlicher Kälteschocks. Meine Ausbildung bei der Wasserwacht Tutzing hilft mir, diese Risiken einzuschätzen. In Bern erlebe ich den Fluss in seiner schönsten Form: Mit zwölf Stundenkilometern trägt er mich an der Altstadt vorbei – ein Erlebnis, das ich gleich zweimal genieße.
Weiter flussabwärts öffnet sich das Land. Streuobstwiesen säumen das Ufer, Verbotsschilder ebenso – ein schweizerisches Kuriosum für sich. Über Biel und Solothurn führt mich der Fluss Richtung Aargau. Städte wie Solothurn überraschen: Trotz Schiffsverkehr und Betonmauern zeigt sich der Fluss dort ruhig und freundlich. Ich schwimme in gleichmäßigem Rhythmus, den Blick stets auf potenzielle Ausstiegsstellen gerichtet.
Doch selbst Routine ist trügerisch. Kurz vor Altreu zwingt mich eine dichte Schilfzone, zweieinhalb Stunden ohne Unterbrechung weiterzuschwimmen. Statt dagegen anzukämpfen, lasse ich mich treiben, höre das Zischen der Äste, das Sirren von Angelschnüren und das leise Rattern eines Motors in der Ferne. Flussschwimmen bedeutet, Kontrolle abzugeben – und Vertrauen zu lernen.

Das Versprechen des Flusses
In Wangen sitze ich am Abend am Ufer, sehe, wie die Aare im Mondlicht glitzert, und merke, dass sie mich verändert hat. Ihr stetiger Lauf trägt ein Versprechen: dass Stillstand nur eine Illusion ist. Am letzten Tag steige ich noch einmal in den Fluss, kurz vor der deutschen Grenze. Unter der „Aarebrücke“ fällt mir ein, dass ich gerade schwimmend in die EU einreise – und dass sich hier die Strömungen von Aare und Rhein vereinen. Der letzte Abschnitt fordert alles, was ich habe.
Ich erreiche das deutsche Ufer erschöpft, aber erfüllt. 200 Kilometer Wasser, Gletscher, Seen, Städte und Schluchten liegen hinter mir. Ich habe gefroren, gezweifelt, gestaunt – und gelernt, dass selbst ein Land wie die Schweiz, oft belächelt als zu perfekt, voller wilder Überraschungen steckt.

Die Aare hat mich gelehrt, was es heißt, loszulassen. Sie bestimmt das Tempo, die Richtung, den Rhythmus – und zeigt, dass Abenteuer manchmal dort beginnen, wo man sie am wenigsten erwartet.
Noch mehr spannende Geschichten aus ganz Europa? Lesen Sie Abenteuer Europa von Thomas Bauer.


