Marokko – Die Wüste lebt


Rolf Stärk ist ein Globetrotter, wie er im Buche steht. Ob Sansibar, Syrien oder Spitzbergen: kein Weg war zu weit, kein Ziel zu ausgefallen, keine Herausforderung zu groß. Dutzende Länder rund um den Globus hat der Kölner in den vergangenen Jahrzehnten bereist, viele davon mit seiner Frau Ulrike und seinen beiden Hunden Vasco und Balou. Im Rahmen unserer Serie „Fernsucht“ veröffentlichen wir alle zwei Wochen einen Auszug aus dem gleichnamigen Buch, das im Herbst 2019 erscheinen wird. Lesen Sie in Folge 9, wie Abenteurer Rolf Stärk mit Reisegefährtin Ulrike die marokkanische Wüste erkundete – und sich nachts alleine in der Dünenlandschaft verirrte …

Wir hatten seit zwei Wochen unser Lager in Ouleddriss, einem gottverlassenen Ort am Rand der Sahara, nahe der algerischen Grenze im Südosten Marokkos. Um uns auf neue Besucher vorzubereiten, waren wir zwischen Hohem Atlas und Antiatlas über Tarudannt und Taznaght nach Ouazarzate gefahren, angeblich einem Tor zur Wüste. In Wahrheit eher eine Falle für Touristen, die dort in Land-Rover-Kolonnen verfrachtet und in irgendetwas herumgefahren werden, das von den Führern treuherzig als Wüste bezeichnet wird. Wüst sind nur die Preise.

Auf der morgendlichen Runde mit dem Hund entdeckten wir riesige Gemüsefelder mit verschlungenen Wegen zwischen den Feldern, das ideale Hundeausführgebiet. Wir schnupperten. Seltsam, mit was wurde denn hier gedüngt? Der Geruch wurde intensiver, schließlich stechend, und dann stellten wir fest, dass hierher die unbehandelten Abwässer der städtischen Kanalisation zur Gemüsebewässerung geleitet wurden.

Von hier aus ging es ins Draatal und das lohnte sich wirklich: Eine Oase nach der anderen wie im Märchen. Dattelpalmen, Gärten, Wasserläufe, Kasbahs, Ksars und Suqs zu Hauf. Die feinen Unterschiede können Sie bei Wikipedia nachlesen, schließlich soll man seine Berichte nicht überfrachten. Nur so viel: übernachtet hatten wir unter anderem am Fuß der Kasbah Taouirt, in der „Der Himmel über der Wüste“ gedreht wurde. Wie sie das gemacht haben, weiß ich nicht, denn es handelte sich dort nicht um eine Wüste, sondern um eine ausgedehnte Oase in einer eher steppenartigen Gegend, wohingegen in dem Film viel Sand zu sehen ist. Am Ende erreichten wir auf der Suche nach einem neuen Lagerplatz M’Hamid und wendeten schaudernd. Soviel Wüste wollten wir nun auch wieder nicht. Dafür fanden wir sechs Kilometer zurück bei Ouleddriss ein wunderbares Plätzchen mit Palmen, hohen Sanddünen, Dromedaren und Kindern. Die Kinder kamen aus dem Dorf und waren unsere Freunde: Sie guckten über die Mauer des Camps und kicherten und quatschten auf uns ein. Sie begleiteten uns lachend und unablässig plappernd auf all unseren Wanderungen. Fast nie waren sie lästig, sondern immer charmant. Zum Schluss bauten sie sich nebeneinander auf und dann hieß es, fünf bis zehn kleine Hände zu schütteln. Natürlich erwarteten sie ein kleines Geschenk, Luftballons, Schulhefte, Stifte oder Ähnliches. Dabei mussten wir höllisch aufpassen, dass nicht einer zwei Geschenke abgriffelte oder ein anderer leer ausging, denn die saubere Schlachtordnung verwandelte sich bei der Geschenkausgabe wie der Blitz in einen grapschenden Sauhaufen.

Foto: Maximilien T. Scharner/unsplash

Dann war größtes Misstrauen geboten. So kam einer der Kleinsten mit der Behauptung, keinen Ballon gekriegt zu haben. Streng stellte ich ihn zur Rede: Ich sei mir sicher und so weiter und er ein kleiner Gauner. Treuherzig zog er Stirn und Näschen zu einer traurigen Miene und sagte: „Bumm!“ „Bumm?“ fragte ich und gab ihm überwältigt vor Mitleid einen zweiten Ballon. Auf den Trick falle ich gerne noch einmal herein.

Ouleddriss war eine sterbende Oase. Das war zunächst nicht offensichtlich, wenn man durch die Palmenhaine und Gemüsegärten wanderte. Dann aber durchquerte man abschnittsweise abgestorbene Palmen und verlassene Gärten in zerfallenden Lehmmauern.

Das Verhängnis kam mit dem technischen Fortschritt. Seit Jahrtausenden hatten die Wüstenbewohner die Kunst der Feldbewässerung weiterentwickelt, eine höchst komplizierte Angelegenheit. Bewässerungsgräben durchziehen die Oasen, die recht groß sein können und meist in Schluchten oder Tälern liegen. Von Hauptgräben zweigen Nebengräben zu jedem einzelnen Feld und Garten ab, und ein mit hoher Autorität ausgestatteter Wasserzuteiler bestimmt, wie oft und wie lange Wasser auf die einzelnen Nebengräben geleitet wird. Das Wasser kommt aus den Bergen und wurde teils durch unterirdische Kanäle über große Entfernungen herangeschafft. Da die Kanäle schnell versanden, gab es in kurzen Abständen Öffnungen an der Oberfläche. In diese Öffnungen wurden Sklaven hineingeschickt, um den Sand herauszuschaffen. Noch heute sieht man kleine Sandhaufen in der Ödnis, die wie Perlen an einer Schnur entlang der unterirdischen Kanäle angeordnet sind. Die Sklaverei ist abgeschafft, die Kanäle sind versandet, aber auch da, wo es keiner unterirdischer Kanäle bedarf, war die weniger aufwändige Wasserversorgung noch mühevoll, zeitraubend und gab Anlass zu immerwährendem Streit. Also taten sich die Palmgarten- und Gemüsefeldbesitzer jeweils wie eine Genossenschaft zusammen und schafften Dieselpumpen an, die das Grundwasser aus dem Boden holen. Diese Geräte sind mittlerweile so alt, dass jedes Technikmuseum sich um sie reißen würde, aber sie funktionieren und senken den Grundwasserspiegel so weit ab, dass die Palmwurzeln ihn irgendwann nicht mehr erreichen. Dann stirbt die Oase und der Sand erobert immer mehr ehemals fruchtbares Land.

Natürlich gibt es auch hier einen verhaltenen Tourismus, vorwiegend japanischen, und der sieht so aus: Ein Bus voller aufgeregter Japaner rollt an eine ansonsten verwaiste Wüstenstation, die Leute steigen aus und verschwinden gruppenweise in einem großen Umkleideraum. Heraus kommen sie wieder perfekt als Beduinen verkleidet und steigen sich gegenseitig fotografierend auf bereitliegende Dromedare. Dann geht es für eine Stunde hinaus in die schmächtigen Dünen und nach der Rückkehr wieder in den Umkleideraum. Danach erscheinen sie wieder als perfekte Japaner mit ihrer Khakikleidung, die zweifelsohne extra für diesen Ausflug gekauft wurde, ihren eigenartigen Hütchen und anstelle des turbanartigen Kopftuchs, das auch Mund und Nase verdeckt, tragen sie nun einen riesigen rechteckigen weißen Atemschutz im Gesicht. Statt wie Wüstensöhne sehen sie nun wieder wie Safari-Chirurgen aus.

Gegessen wurde auf unserem Platz in einem zeltartigen Diwan, in dem es saugemütlich und saukalt war, wenn man nach Sonnenuntergang erschien. Omar, der das Camp ganz allein unterhielt, kochte auf Bestellung, und zwar gut. Generell gab es hier wunderbare Gerichte: Tagine de Poulet (ein in einem zipfelmützenartig geformten Tongefäß gekochter Eintopf mit Hühnerfleisch), Tagine de Bœf, Harira, Couscous, Tagine de Poulet, Tagine de Bœuf, Harira, Couscous, Brochettes de Bœuf, Brochettes de Kefta. Nachsalzen war erlaubt, denn alle Speisen wurden nahezu ungewürzt serviert – es sei denn, man hatte das unwahrscheinliche Glück, mal eine Pastilla de Poulet zu erwischen, die wurde nämlich wenigstens stark gezuckert. All diese Speisen waren köstlich, wenn man aber im ganzen Land über Monate immer nur das Gleiche bekommt, sehnt man sich bald nach Abwechslung. Omar war wie ein Vater zu uns: Er kümmerte sich um alles, besonders, nachdem wir seine Familie in einem kleinen Bergdorf direkt vor dem höchsten Pass des Hohen Atlas besucht hatten. Dort sollten wir sein sauer Erspartes (etwa 20 Euro) bei Frau und Kindern abliefern, denn er selbst kam nur alle zwei Monate mal nach Hause. Wir mussten da ohnehin vorbei, weil wir noch mal nach Marrakesch wollten, und bereuten den Zwischenstopp nicht. Omars Dorf war ein armes Dorf, das kahle Gebirge ließ außer der Ziegen- und Schafhaltung fast nichts zu, ein karges Leben mithin. Es gab eine winzige Moschee in bedenklichem Erhaltungszustand und einfache Lehmhäuser, aber keine Schule. Überall roch es nach Holzrauch, obwohl ich hier vor dem Pass nirgendwo Bäume oder Sträucher sah. Das kleine Haus, in dem Omars Familie uns willkommen hieß, bestand aus Küche, Toilette und einem niedrigen Raum, der mit flachen Tischchen und vielen Kissen an den Wänden eingerichtet war und offensichtlich als gute Stube und Empfangsraum diente. Eine schmale offene Holztreppe führte ins Obergeschoss, in dem wir Schlafkammern für die zahlreichen Bewohner vermuteten. Im Kreis dieser Familie wurden wir auf den Kissen sitzend auf typisch marokkanische Weise bewirtet: Schüsseln mit Gemüse, Couscous, Früchten und Hammelfleisch wurden herumgereicht, und während die Berber gemeinhin mit den Fingern der rechten Hand essen, hatte man für uns zwei Blechlöffel bereit gelegt. Die Unterhaltung war mühsam, weil die Leute kein Französisch sprachen und jeder Satz von einem Mann übersetzt werden musste, der eine Anstellung in einem Hotel an der Küste hatte und offenbar ein Nachbar auf Heimaturlaub war. Es wurde viel zeremoniell zubereiteter Tee mit Minzstängeln in Gläsern herumgereicht und wir erfuhren, dass eine belgische Entwicklungshilfeorganisation im Dorf neuerdings Schulunterricht für die Frauen gab und dass man den berühmten Agadir besichtigen könne.

Wir horchten auf: Ein Agadir musste etwas ganz Besonderes sein. Wir hatten einige Wochen zuvor in einer halsbrecherischen Fahrt versucht, die Ruine des Agadir Tashguent bei Tafraoute zu besichtigen, das Vorhaben war jedoch daran gescheitert, dass der Wächter des Schlüssels ein Mittagsschläfchen hielt, das zu unterbrechen sich niemand traute. Hier aber war keine Ruine, sondern ein komplett erhaltener Agadir und keiner unserer Marokko-Reiseführer hatte uns davon etwas verraten. Bevor wir zum Schlaf auf unsere Kissen niedersanken, verabredeten wir mit der Familie eine Besichtigung der belgischen Frauenschule und des Agadirs für den kommenden Tag.

Obwohl wir uns in unserem Wagen wohler und komfortabler gefühlt hätten, nahmen wir die Einladung zur Übernachtung in der Hütte an, denn ein auch noch so höflicher Rückzug hätte unsere Gastgeber tief gekränkt. Der Abend war früh zu Ende, denn im Atlas steht man früh auf. Hahnengekrähe weckte uns bei Sonnenaufgang – eine Erfahrung, die mir fremd war und hoffentlich auch bleiben wird. Nach dem Frühstück aus Melone, Feigen, gesäuerter Milch und Fladenbrot machten wir uns auf zur Besichtigungstour in Begleitung der halben Dorfbevölkerung. Die Nächte hier oben waren entsetzlich kalt im Winter und das war auch am frühen Morgen noch deutlich zu spüren. Mit rauchendem Atem kletterten wir zu einer aus Feldsteinen errichteten Hütte und traten ein. Die Männer blieben draußen, auch unser Übersetzer und die übrigen Begleiter. Im Inneren fanden wir eine Gruppe verschleierter Frauen, die mit Schreibblöcken auf dem Schoß und Stiften in der Hand auf den Kissen hockten, die Gesichter einer Tafel an der Stirnwand zugewandt, die Augen aber neugierig auf uns beide gerichtet. Eine europäisch aussehende Frau – das musste wohl eine Belgierin sein – sprach in Berberisch oder Arabisch (ich kann das nicht unterscheiden, denn es handelt sich um unterschiedliche Sprachen mit ähnlicher Phonetik) und zeigte mit einem Stöckchen zunächst auf mich, offenbar eine Vorstellung unseres Besuches, um sich dann wieder einem auf der Tafel befestigten Plakat zu widmen, das eindeutig einen weiblichen Unterleib mit Uterus, Eileitern und Vagina darstellte. Kein Zweifel: Hier fand eine Unterrichtung in Empfängnisverhütung statt. Später gab es für uns Gelegenheit, mit der Belgierin zu sprechen und wir erfuhren, dass belgische Hilfsorganisationen vielfältig in den marokkanischen Dörfern engagiert sind. Auf meine Frage, warum ich als einziger Mann dem Unterricht beiwohnen durfte, erklärte sie mit bübischem Lächeln, sie habe erklärt, dass wir eine deutsche Ärztedelegation seien, denn sonst wären die Frauen wie der Blitz verschwunden. Ob sich denn ihre Lüge nicht über unsere Gastgeber herumsprechen werde, wollte ich wissen. Sie lachte einfach: „Sie kennen eben das unverletzliche Gastgesetz der Berber nicht!“

Davon aber sollten wir eine Ahnung bei der Besichtigung des Agadirs bekommen. Von außen erschien er uns als fensterloser dicker Turm mit drei Geschossen, ein wehrhaftes Gebäude aus gemauerten Feldsteinen. Ein alter Mann mit ledernem Gesicht erschien mit würdevollen Begrüßungsgesten und einem mächtigen geschmiedeten Schlüssel, der die einzige Tür des Gebäudes öffnete. Im Inneren war es dämmrig und die Anordnung des Bauwerks verwirrend. Die drei Geschosse waren nicht durch Decken voneinander getrennt, sondern von umlaufenden Galerien geschieden, die mit den Geschossen durch etliche wirr erscheinende geländerlose Treppchen verbunden waren. Ringsum an den Wänden waren überall kleine hölzerne Klappen mit mächtigen schmiedeeisernen Schlössern angebracht. Der Agadir war früher für die Berber das, was heute für uns der Banktresor ist. Jede Sippe, die an seiner Errichtung mitgewirkt hatte, besaß ein Fach zur Aufbewahrung ihrer kostbarsten Güter, überwiegend Früchte und Getreide, und ein von der Gemeinschaft bezahlter Wächter bewachte all das. Wegen des beständig gleichbleibenden Klimas in dem dickwandigen Turm blieben die Lebensmittel lange erhalten. Unsere Dorfbewohner hatten sich daran erinnert und beschlossen, diese Tradition zum eigenen Nutzen wieder auferstehen zu lassen, während anderswo in Marokko die Agadire verfallen oder bereits verschwunden sind. Aber diese Gebäude hatten noch andere Funktionen: Hier sprach man Recht und beriet über wichtige Dinge, und bei Angriffen feindlicher Stämme dienten diese Orte als Festungen. Allerdings dienten sie nur denjenigen als Zuflucht, die wiederum zuvor an ihrer Errichtung teilgenommen hatten. Aber es gab Ausnahmen: Flüchtete ein Feind in den Agadir, so war er so lange unter seinem Schutz, bis die Gefahr vorbei war. Anschließend allerdings musste er die Lebensmittel ersetzen, die er verbraucht hatte. War die feindliche Streitmacht abgezogen und die Lebensmittelschuld, die auch in Geld entrichtet werden konnte, beglichen, so hatte er den Turm zu verlassen. Dann wurde er wieder als Angehöriger des feindlichen Stammes angesehen und – sollte er sich nicht schleunigst aus dem Staub machen – auch so behandelt. Solche Gast- und Kriegskonventionen konnten sich nur unter den Bedingungen einer lebensfeindlichen Umwelt entwickeln.

Foto: Sergey Pesterev/unsplash

Omar war nicht nur herzensgut, er war auch ein glänzender Unterhalter und fromm obendrein. An jeden Satz hängte er ein „Inschallah“ („so Gott will“) an oder ein „Allahu akbar“ („Gott ist groß“), oft auch „Alhamdulillah“ („Gottseidank“). Und er leerte die Mülltonne des Camps. Und in der Mülltonne waren – sorgsam zwischen anderem, aber weniger verfänglichem Unrat versteckt – auch unsere leeren Weinflaschen ganz zuunterst deponiert. Bereits am zweiten Tag sprach er mich auf das Verhängnis des Alkoholmissbrauchs an, dem seines Erachtens leider auch in Marokko mehr und mehr Menschen verfielen, besonders die jungen Leute. Und das Teuflische an diesem Getränk sei im Grunde, dass es in dieser Gegend – „Alhamdulillah!“ – überhaupt nicht zu kaufen sei. Diese merkwürdige Aussage ließ mich zunächst an meinem Französisch zweifeln, dann an Omars Französisch. Dabei war die Lösung so einfach: Nachdem er uns mal wieder einen Gefallen getan hatte und er mir scheinbar zusammenhanglos erzählte, dass er heute Abend wichtigen Besuch erwarte, ließ ich einfach den Versuchsballon steigen: Ein Fläschchen Rotwein wechselte den Besitzer. Bald hatten wir eine stillschweigende Übereinkunft: An jedem vierten Tag war eine Flasche fällig, dann drückte er sich schon mittags um unser Lager herum, erkundigte sich nach unserem Wohlbefinden und machte sich mit kleinen Handreichungen nützlich. Allah hat mich übrigens inzwischen gebührend bestraft: Eines Abends hatten die Frauen (wir hatten eine Freundin und Ulrikes Tochter zu Besuch), um dem marokkanischen Einerlei etwas Texanisches entgegenzusetzen, ein köstliches Chili con Carne zubereitet. Mit Rindergehacktem, Wüstenrindfleisch sozusagen. Seitdem lag ich mit einer entsetzlichen Diarrhöe darnieder und meinem treuen Hund Vasco ging es ebenso. Das Fleisch musste von Milliarden Erregern befallen gewesen sein. Allahu akbar, die Wüste lebt!

Sand

Wir beschlossen, von M’Hamid aus eine Dreitagestour in die Sanddünen zu unternehmen. Da wir eine pistenlose Strecke durch unübersichtliches Gelände vor uns hatten, war ein ortskundiger Führer unverzichtbar. Darüber hinaus ging es ausschließlich über Sand und teils über Feinsandfelder, eine so tückische Angelegenheit, dass ich mich nicht traute, selbst zu fahren, also mieteten wir einen Landrover mit einheimischem Fahrer. Der kam am frühen Morgen, war ein schweigsamer, hagerer kleiner Mann und stellte sich als „Adi“ vor, das konnte nur eine touristentaugliche Abkürzung sein. Sein Gesicht wurde bis auf die Augen von einem Kopftuch verdeckt, was ihn als echten Beduinen auswies. Er und Omar machten sich daran, das Auto für die Reise vorzubereiten. Auf den ausladenden Dachgepäckträger wurden ein großes Militärzelt, Matratzen, dicke Sitzkissen, Wasser- und Dieselkanister, Küchenutensilien, Proviantbeutel sowie unser eigenes Gepäck gestapelt und mit Seilen festgezurrt. Das Fahrzeug sah jetzt überladen aus und die Schwerpunktverlagerung dürfte der Geländetauglichkeit ziemlich abträglich gewesen sein. Verstärkt wurde der Eindruck noch von den platten Reifen. In der Sandwüste lässt man Luft aus den Reifen ab, um die Auflagefläche zu verbreitern. Ich habe das selbst oft gemacht, mich aber nie getraut, so radikal wie Adi vorzugehen. Die Reifen sahen aus, als müssten sie jeden Augenblick von den Felgen springen. Ob dieser Beduine wusste, was er da machte? Mit Dromedaren kannte er sich womöglich besser aus als mit Allradfahrzeugen. Und noch etwas anderes erregte meine Aufmerksamkeit: Quer unter dem Fahrzeug war eine Kette befestigt, die ein wenig durchhing. Diese eigenartige Konstruktion war mir auch bei anderen Geländewagen schon aufgefallen und ich hatte mich gefragt, was wohl mit den Fahrzeugen und ihren Insassen passieren würde, wenn die Kette sich während der Fahrt in einem festen Hindernis verhaken würde. Omar erklärte mir, dass es sich um eine Vorsichtsmaßnahme handelte: Im Sand kann sich nichts verhaken, andererseits kam es bei den uralten Landrovern in der Sandwüste vor, dass sich während der Fahrt die vordere Antriebswelle vom Differenzial löste, die wurde dann von der Kette aufgefangen, denn ohne sie würde sich die Welle in den Sand bohren und das Fahrzeug sich unweigerlich überschlagen. Ich überlegte, ob das ganze Vorhaben vielleicht ein Fehler war und ob ich Adi nicht besser bitten sollte, hinter dem Lenkrad unseres eigenen Autos Platz zu nehmen. Das würde ihn allerdings kränken und Beduinen können furchtbar ehrpusselig sein, also blieb es beim alten Plan. Der Wagen war ein Siebensitzer und wir waren einschließlich Omars, Adis und unserer Besucherinnen zu sechst. Die Sitze waren wirklich schmal und eng nebeneinander angeordnet. Vasco hatte keinen Platz auf dem Wagenboden und musste daher auf den letzten Sitz, der viel zu klein für ihn war. Dennoch sprang er brav hinauf, legte sein Hinterteil auf den Sitz und seine bedeutend schwerere Vorderhälfte auf meinen Schoß. Dort ruckelte und räkelte er sich behaglich, ihm gefiel es offensichtlich. Die Fahrt konnte losgehen. Wir preschten durch Wadis und über Sandhügel und schleuderten des Öfteren bedenklich. Durch Sand zu langsam zu fahren, bedeutet stecken zu bleiben. Die Treibsandhaufen wurden höher und höher, aus den Hügeln wurden enorm hohe Dünen mit langen Kämmen. Der Sand war fast so fein wie Staub und der Wind blies über die schmalen Kämme. Auf diese Weise wandern die Dünen und aus diesem Grund ist eine Dünenseite stets steiler als die andere.

Wer mal für einige Stunden in einem Karussell einen Mehlsack auf den Knien balanciert hat, dürfte eine Ahnung davon haben, wie sich die Wüstenfahrt mit einem zufrieden schmatzenden Vasco auf dem Schoß anfühlte, der überdies noch meine Hose gründlich einspeichelte. Froh, dass wir irgendwann im Nirgendwo anhielten – unser Fahrziel war erreicht – stakste ich steifbeinig im heißen Wind herum, um wieder ein Gefühl in meine tauben Beine zu kriegen. Omar und Adi machten sich daran, ein Lager aufzuschlagen. Das Ergebnis war ein großes Militärzelt ohne Boden, das mit Sandhaufen auf den Rändern der Plane gegen den Wind gesichert wurde. Häringe hätten ohnehin keinen Halt gefunden. Das Innere präsentierte sich erstaunlich gemütlich: Die Matratzen waren mit gewebten Teppichen bedeckt, überall lagen Sitzkissen und direkt neben dem Eingang war eine Feuerstelle zum Kochen angelegt, die gleichzeitig als Lichtquelle diente. Omar bereitete das Abendessen auf gewohnt sparsamer Flamme und Adi griff zu einer Gitarre; ich staunte und war gerührt. Vasco war begeistert zwischen den Dünen verschwunden und ich machte mir Sorgen darüber. Vorsichtshalber, und um einen Überblick zu erhalten, versuchte ich, unsere Nachbardüne zu besteigen. Ich schaffte das am Ende auch, aber ich hatte es mir einfacher vorgestellt. Nach jedem Schritt auf den Sand rutschte ich zwei Schritte wieder hinab und erst, als ich es mit Händen und Füßen versuchte, erreichte ich den scharfen Kamm und fürchtete jetzt, auf der anderen – steilen – Seite hinunter zu rutschen. Der Hund war längst wieder zurück, aber der großartige Ausblick über das sich bis zum Horizont erstreckende Sandmeer lohnte die Kletterei. Die Linien der sich chaotisch windenden Dünen erinnerten an einen grotesk vergrößerten Fingerabdruck. Gewohnt schnell fiel die Dunkelheit über uns her. Der Himmel öffnete seinen Sternenschirm, der unendlich tief gestaffelt und zugleich nah erschien, und wir wussten wieder einmal, warum die Sahara eine Droge ist.

Foto: Wolfgang Hasselmann/unsplash

Droge hin, Droge her, auch an einem Ort wie diesem musste ich pinkeln, also entfernte ich mich ein paar Schritte vom Zelt halb um eine Düne herum. Auf dem Rückweg stutzte ich nach wenigen Metern: nanu, wo war denn das Zelt? Ich ging noch ein wenig weiter um die Düne herum, hier müsste es auf jeden Fall sein. War es aber nicht. War ich etwa in die falsche Richtung gegangen? Aber ich war doch von links gekommen und dorthin war ich auch wieder zurückgegangen! Oder doch nicht? Verdammt, wie auch immer, das Zelt konnte höchstens 50 Meter entfernt sein, oder vielleicht hundert. Ich lauschte. Nichts als der Wind war zu hören, der meine Fußspuren bereits verwischt hatte. Was nun? Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass ich mich auf einem derart kurzen Weg in der Sandwüste verlaufen haben sollte. Also noch mal alles auf Anfang: erst an den letzten Ausgangspunkt zurück und von da aus den Weg rekonstruieren, wäre doch gelacht. Bald musste ich mir eingestehen, die Orientierung verloren zu haben. Hätte ich doch bloß den Hund mitgenommen! Ich war wütend auf mich und beunruhigt. Viel passieren konnte mir hier nicht, spätestens bei Sonnenaufgang würde man mich finden, falls ich bliebe, wo ich war. Aber die Nacht konnte verdammt ungemütlich werden und ich war nicht gegen die aufziehende Kälte gerüstet. Zudem befürchtete ich unbedachte Suchaktionen meiner Mitreisenden in der Dunkelheit, wenn meine Abwesenheit länger dauerte. Handys funktionierten hier nicht. Ich beschloss also, einen letzten Versuch zu machen, und der bedeutete, den nächstbesten Dünenkamm zu erklimmen. Nach elender Rutscherei gelang es mir – meine Wanderstiefel waren bis obenhin mit Sand gefüllt – und sofort erblickte ich das vom Feuerschein erleuchtete Zelt. Es lag fast direkt unter mir, allerdings in der gegenteiligen als der von mir erwarteten Richtung. Ein direkter Abstieg kam nicht infrage, ich hätte an der Steilseite der Düne hinabrutschen müssen. „Wo warst du denn so lange?“ Ich zuckte mit den Schultern und gab mich gleichgültig. „Mal ’ne Runde um den Block gemacht, nach dem Rechten geschaut. Schön draußen.“

Wir hatten Mineralwasserflaschen dabei und zwei 20-Liter-Kanister, das reichte zum Kochen, abwaschen und zum Auffüllen des undichten Autokühlers – das war nicht viel für sechs Leute in drei Tagen. Es blieb gerade noch genug zum Zähneputzen, Waschen wollten wir uns nicht damit. Ganz anders unsere Beduinen: Sie befolgten nicht nur die ihnen vom Koran vorgeschrieben rituellen Waschungen, sondern betrieben regelrechte Körperpflege. Ich glaube, mal gelesen zu haben, dass die Wüstensöhne sich in Ermangelung von Wasser mit Sand waschen. Doch die Wüste besteht überwiegend aus gebirgiger Ödnis und Geröll auf steppenartigen Plateaus, und nur in – wenn auch beeindruckend großen – Teilen aus Sand.

Ich habe mir die Wüste früher stets flach und niedrig vorgestellt, in Wahrheit aber handelt es sich in Nordafrika eher um eine zerklüftete Hochebene, auf die man erst mal hinauf muss. Adi und Omar wuschen sich mit Wasser, aber wie! Sie hatten je eine wassergefüllte Plastikflasche mit einem Nippelverschluss nach Art von Spülmittelflaschen dabei, aus der sie einen feinen Strahl auf Hände, Gesicht, Hals, Füße und unter ihre Kleidung applizierten. So gelang es ihnen, sich mit einer einzigen Flasche Wasser drei Tage lang zu waschen und fürs Zähneputzen reichte es auch noch, während ich mich bereits am Ende des ersten Tages über meinen Achselgeruch ärgerte.

Am Morgen des dritten Tages brachen wir wie an den beiden vorhergehenden bereits um fünf Uhr in der Frühe auf. Selbst im Winter wurde es hier draußen ab Mittag so heiß, dass irgendwelche Aktivitäten kaum noch möglich waren. Zwischen 13 und 17 Uhr spannten unsere Begleiter eine Zeltplane zwischen Dachträger und Boden auf. Unter diesem schrägen Schutzdach verbrachten wir träge die kommenden Stunden bis zum erneuten Aufbruch. Omar und Adi rollten sich einfach auf dem Boden zusammen und binnen Minuten hörten wir sie leise schnarchen, übertönt von Vascos Sägen. Heute wollten wir ein Schott erreichen, einen vor Urzeiten ausgetrockneten Salzsee, grellweiß und erstaunlicherweise nicht vom Sand zugeweht. Von weitem schon glaubten wir, ihn zu erkennen, aber dann kam etwas dazwischen: Adi suchte den Horizont ab und wies auf einen feinen schwarzen Streifen, der westlich von unserem Ziel schwach erkennbar war. Als er schweigend den Wagen wendete, erklärte Omar, dass wir mit einem Sandsturm rechnen und schleunigst Schutz suchen müssten. Mich wunderte das ein wenig, denn der Streifen war weit weg und schien nicht sonderlich bedrohlich zu sein. Tatsächlich fuhr Adi jetzt mit Vollgas, der Wagen wirbelte eine riesige Staubwolke auf. Meine Oberschenkel schmerzten, weil Vasco auf meinem Schoß auf und ab hopste und vergeblich nach Halt suchte, überdies hatten wir selbst alle Mühe, uns irgendwo festzuhalten. Nach etwa einer halben Stunde hatte sich der Strich in eine schwarze Wand verwandelt, die schnell näher kam. Stürmischer Wind war aufgekommen, der den Sand waagerecht in unsere Fahrtrichtung blies. Mit einem Mal wurde es dunkel, die Wand hatte uns eingeholt und fiel buchstäblich über uns her. Schon vor Minuten hatten wir alle Fenster und Lufteinlässe geschlossen. Dichter heißer Staub waberte im Wageninneren und es war unerträglich stickig geworden, das Atmen fiel schwer; Adi und Omar hatten die Zipfel ihrer Kopftücher über Nase und Mund gespannt. Die Sicht war weg, um uns herum nur noch grauglühende Undurchdringlichkeit, durch die unser Fahrer den schwankenden und bockenden Wagen blind und in verrücktem Tempo hindurch trieb. Blitzschnell wechselte er zwischen Untersetzungs- und Normalgetriebe hin und her, schaltete die Differenzialsperren in kurzer Folge ein und aus, jagte über Felder mit Weichsand, in denen jedes zu langsame Geländefahrzeug unweigerlich stecken geblieben wäre. Mir wurde klar: der machte das nicht zum ersten Mal und das beruhigte mich ebenso wie die Gelassenheit seines Beifahrers. Aber wie schaffte Adi es, irgendeine Orientierung zu behalten? Mir war das ein Rätsel. Plötzlich erkannte ich wie durch einen Schleier ein weiteres Fahrzeug, das parallel zu uns in geringer Entfernung in dieselbe Richtung jagte, eine enorme Sandfontäne hinter sich schleudernd. Und dann war der Spuk ebenso schnell beendet, wie er gekommen war, und ich sah vor uns die Waschbrettpiste, die uns vor Tagen aus M’Hamid hinaus geführt hatte. Wir konnten die Fenster wieder öffnen und Luft holen, und ich starrte benommen auf die Zentimeter dicke Staubschicht im Inneren des Wagens. Wie hatte der Teufelskerl es fertig gebracht, exakt unseren Ausgangspunkt anzusteuern? Von Omar erfuhr ich am Abend, dass Adi früher Militärfahrer in Mauretanien war und dass er so verrückt fahren musste, um uns vor der Bedrohung zu bewahren, im Sturm stecken zu bleiben. Dann nämlich hätte der Sturm das Fahrzeug eventuell mit Sand bedeckt und es wäre keineswegs sicher gewesen, ob wir uns alleine hätten befreien können. Ich betrachtete Adi nun mit anderen Augen und würde später in Libyen nach ähnlichen Erfahrungen meine Bewunderung auf alle Beduinenfahrer ausdehnen.

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