Skandinavien und Baltikum – Der Mythos von den Elchen


Rolf Stärk ist ein Globetrotter, wie er im Buche steht. Ob Sansibar, Syrien oder Spitzbergen: kein Weg war zu weit, kein Ziel zu ausgefallen, keine Herausforderung zu groß. Dutzende Länder rund um den Globus hat der Kölner in den vergangenen Jahrzehnten bereist, viele davon mit seiner Frau Ulrike und seinen beiden Hunden Vasco und Balou. Im Rahmen unserer Serie „Fernsucht“ veröffentlichen wir alle zwei Wochen einen Auszug aus dem gleichnamigen Buch, das im Oktober 2019 erscheinen wird. Lesen Sie in Folge 8, wie Rolf Stärk Skandinavien und das Baltikum bereist, warum Elche nur ein Mythos sind und wie sich Hund Vasco das Bein gebrochen hat …

Schweden, Norwegen – „Tomgangskörning“

In Schweden gibt es zellophanverpackte „Köttbullar“, ein Nationalgericht. Es handelt sich um industriell gefertigte Minifrikadellen, die uns auf der Fahrt niemals ausgehen durften, denn ohne sie wäre der Hund nicht bereit gewesen, ins Auto einzusteigen. Ohne Köttbullar spielte er den Gelähmten, mit Köttbullar schwebte er wie eine Ballerina in den Wagen. Weitere Nationalgerichte sind geschmacksfreie Eismeerkrabben und Fische aus der Tube. Ja doch, aus der Tube. Man drückt unterschiedlich gefärbte Pasten heraus, die dann je nach Aufschrift nach Lachs, Makrele, Sardine oder Hering zu schmecken haben.

Gotland wollten wir schon immer mal besuchen, Ulrike wegen des Grabes von Ingrid und Ingmar Bergmann nebenan auf Fårö, ich wegen Störtebeker. Schöne Insel, besonders die Stadt Visby, Weltkulturerbe natürlich. Trotz der schönen Häuser und der komplett erhaltenen Stadtmauer mit ihren Türmen muss es noch andere Gründe für diese UNESCO-Auszeichnung geben, und ich vermute, diese zu kennen: Zum einen haben sie hier statt der üblichen Absperr-Poller niedliche steinerne Schafe mit Widdergehörn an den Fahrbahnrändern, zum anderen wird in Visby niemals ein Fenster geputzt. Niemals, weder von außen noch von innen. Ausnahmslos alle Fensterscheiben der Stadt waren fast blind vor Schmutz, das galt für Wohnungen wie für öffentliche Gebäude und Schaufenster. Egal, wie appetitlich oder erlesen die Auslagen von Konditoreien, Mode-, Schmuck- und Radiogeschäften auch sein mochten, man sah sie kaum. Da muss irgendein Gelübde dahinterstecken, wahrscheinlich was mit Pest und Mittelalter oder so.

Der Siljansee im mittelschwedischen Dalarna (was für schöne Namen!) war so einladend, dass wir beschwingt für drei Wochen ein Lager aufschlagen wollten. Hier war Schweden so, wie sich der kleine Rolf Schweden vorgestellt hatte: eine Moränenlandschaft mit grünen Hügeln, niedliche rote Holzhäuser mit blauen Fensterrahmen, weißblonde, lebhafte Kinder mit weißblonden, jungen Müttern mit schlanken Körpern und allesamt makellos weißzahnig lächelnd wie Vivi Bach, falls noch jemand versteht, was ich meine. Die Landschaft war weit und breit und wurde in der Dämmerung von wildem rötlichem Licht an kolossal aufgedonnerten Wolken vorbei dramatisch beleuchtet. Aggressive Mückenschwärme gab es auch endlich, und erst die Ruhe in dieser Natur! Schweden hat seit Ewigkeiten keine Kriege mehr geführt und das geht seinen Bewohnern erkennbar auf den Zeiger. Um ihren Haudraufstau zu kompensieren, frönen sie zwei Leidenschaften: Die eine ist das Kriegsspiel. Wir waren von Manövern umgeben. Panzer rasselten, Kanonen krachten und Maschinengewehre machten taktaktak. Überall krochen als Maibäume verkleidete Soldaten herum, nahmen gebrüllte Befehle entgegen, hetzten woanders hin und wurden dort mit neuen Befehlen bebrüllt, fuhren bullige Lastautos oder schlichen sich an. Das alles hätte schrecklich wie Krieg ausgesehen, wäre nicht die Zivilbevölkerung eisschleckend in aufgeräumtester Stimmung zwischen all dem Manövergetue wie selbstverständlich herumgelaufen.

Schwedens verträumte Küstenlandschaft hat etwas Magisches. Foto: Ines D’Anselme/unsplash

Die andere Leidenschaft ist das Rasenmähspiel. Gras muss permanent bekämpft werden, soviel ist klar. Also hockten um unser Lager herum alle Bauern oder deren Frauen auf motorisierten Sitzrasenmähern und machten einen Heidenlärm, jeden Tag und nicht selten bis tief in die Nacht. Obwohl Dalarna noch nicht sonderlich hoch im Norden liegt, wurde es hier nicht mehr richtig dunkel, bis halb zwölf konnte man im Freien noch mühelos Zeitung lesen – oder Rasen mähen. (Diese Helligkeit machte die armen Vögel ganz wuschig, um halb zwölf nachts gingen sie schlafen und um halb eins pfiffen und zwitscherten sie wieder verzweifelt um die Wette). Mit den Mähern hatten unsere Naturfreunde aber ihr Pulver noch längst nicht verschossen: Einmal in Fahrt, packten sie ihre Rasenkantenschneider aus und dann ging’s erst richtig zur Sache. Rasenkantenschneider sind um die Schulter gehängte, motorbetriebene, langstielige Messerquirle, die einen unerträglichen auf- und abschwellenden Höllenlärm erzeugen – etwa vergleichbar mit dem Knattern von Wasserscootern, die jeden Urlaub an südeuropäischen Gestaden verderben können. Die Benutzer tragen als Gehörschutz mächtige Stereokopfhörer, deren Musik sie beflügelt, Stunden um Stunden mit diesen Lärmfoltergeräten herum zu jaulen. Auf dem gegenüberliegenden Seeufer brachte einer sein hektargroßes Grundstück über drei Tage hinweg jeweils acht Stunden lang auf diese Weise auf Vordermann, begleitet von zwei Nachbarn hinter und seitlich von uns. Camping auf einem Großflughafen wäre dagegen Naherholung gewesen. Aus den drei Wochen wurde nichts.

Es zog uns ins wilde, bergige Norwegen mit seinen einsamen Tälern und schroffen Fjorden, und bald befanden wir uns schon recht weit im Norden. Es dämmerte nachts nicht einmal mehr richtig, stattdessen wurde gegen die tief im Norden stehende, meist rote Sonne unbedingt eine Sonnenbrille benötigt. Wenn es Wolken gab, so wurden diese von der tiefstehenden Sonne von unten beleuchtet und ihre wundersamen Formen in gelb-rötliche Phantasmagorien verwandelt. Wir fragten uns, warum hier pünktlich zwischen acht und neun Uhr abends alle Straßenlaternen aufflammten. Der Norweger an sich ist der geborene Umweltfanatiker, das „miljö“ ist ihm ein Herzensanliegen. Müll trennt er selbstverständlich, Dosen- und Flaschenpfand sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen und das Land ist mit strengen Gebotsschildern gepflastert. An den Ortseingängen stehen Schilder, die die Motorleerlaufzeiten („Tomgangskörning“) regeln, je nach Gemeinde sind nullkommafünf bis drei Minuten erlaubt. Ich fragte mich, was mancherorts Gemeinderäte dazu bewogen haben mochte, dafür zu kämpfen, dass Motoren drei statt einer halben Minute sinnlos in Betrieb sein dürfen. Aus unerfindlichen Gründen war es auch verboten, die Abwasserschläuche unseres Anhängers in Kanalöffnungen zu legen, aber alle Duschen und Toiletten wurden bei offenen Türen im Hochsommer elektrisch auf 28 Grad überheizt, Lichtquellen leuchteten allenthalben, was auch in der Nacht überflüssig war, und in jedem Supermarkt wurde den Kunden frisches Walfleisch zu einem Kilopreis hinterher geworfen, der unter 10 Euro lag. Norwegen widersetzt sich dem Walfangverbot und schlachtet die Meeressäuger wie Japan und Island angeblich nur für die wissenschaftliche Forschung. Offenbar soll zum Nutzen der Umwelt das norwegische Verbraucherverhalten erforscht werden.

Foto: Mikita Karasiou/unsplash

Finnland: „YII – II“

Es war eine famose Idee von uns, im seit Menschengedenken heißesten Juli Deutschlands in den Norden zu fliehen. Seit sieben Wochen regnete es hier oben unablässig, und warm war es auch nicht. Der ganz hohe Norden hielt auch nicht, was er früher mal versprach. Nach zwei nassen Tagen im norwegischen Trondheim setzten wir nun große Hoffnungen auf die Inselgruppe der Lofoten, die ohne Frage zu den schönsten Landschaften des hohen Nordens zählen. Orte wie Svolvær und Henningsvær sind ihrer bunten Schlichtheit und harmonischen Meerlage wegen äußerst sehenswert. Die meist rot oder blau gestrichenen Holzhäuser strahlen trotz des auch im Sommer stets fahlen Tageslichtes und der kargen Landschaft buckliger Felsen eine anziehende Wärme und Geborgenheit aus – besonders, wenn es regnet. Am besten besichtigt man die Lofoten nachts, denn dann scheint die Sonne unaufhörlich. Nach zehn Tagen gaben wir auf. Statt wie beabsichtigt an die Barentssee und auf die Varangerhalbinsel zu fahren, ergriffen wir erneut die Flucht, diesmal nach Südosten quer durch Lappland. (Varanger stellten wir uns spannender als das Nordkap vor, das ist ein Rummelplatz, der nicht einmal wie versprochen am nördlichsten geografischen Punkt des europäischen Festlands liegt). Erste Station war Kiruna in Schweden.

Kiruna brachte den Durchbruch: Die Sonne brüllte förmlich vom Himmel, kein Wölkchen ließ sich blicken und es wurde richtig heiß. Und was machten wir? Na, was machten wir wohl? Kiruna! Fällt der Groschen? Richtig, wir verbrachten den Tag in 530 Metern Tiefe auf Stollen fünf bei 9 Grad Celsius im größten Erzbergwerk der Welt. Dort tropfte es auch ganz schön, wir fühlten uns da genau richtig. Die Weiterfahrt durch Lappland war spannend: Die unwirklich menschen- und tierleere Tundralandschaft erstreckte sich über Hügel und Täler, es ging auf viel zu schmalen Straßen über steile Pässe, die jenseits der Baumgrenze alpin erschienen. Dennoch zeigte der Höhenmesser nur 500 bis 600 Meter an. Es gab übrigens Bäume, aber die waren nicht größer als Primeln. Hier ließen sich – anders als in Norwegen, wo im Sommer auf einen PKW drei Wohnmobile kommen – keine Touristen blicken. Die wollten alle das Nordkap sehen und nahmen danach eine weit nördlichere Route, nämlich die Höhe, aus der uns gerade der Regen vertrieben hatte; sie hatten eindeutig bessere Nerven als wir und liefen draußen vermutlich in Taucheranzügen umher. Praktisch auch, dass wir im Hochsommer hier durchfuhren.

Dann sind nämlich die Sami mit ihren Rentierherden da, wo jetzt die Touristen waren und so blieb uns der Anblick der Tiere erspart. Immerhin bot uns das Museum in Jokkmokk eine Ahnung von der Samikultur und andächtig waren wir in den Anblick des ausgestopften Rentiers versunken.

Das ist jetzt der Augenblick, um mit drei unausrottbaren nordischen Mythen aufzuräumen: Da sind zunächst die Trolle. Krüppelige, hässliche, dicknasige Gestalten, die in Erdlöchern und dunklen Wäldern hausen. Unzweifelhaft Verwandte der „Little People“ Englands, treiben sie ihren Schabernack mit den Menschen. Obwohl sie als Puppen in jedem Schaufenster stehen und obwohl die norwegische Regierung sich wahrhaftig einen Troll-Beauftragten leistet (was treibt der Bursche eigentlich?), haben wir keinen einzigen Troll zu Gesicht bekommen.

Mit den Elchen ist es genauso. Alle zwei bis drei Kilometer sind die Straßen mit Warnschildern bestückt. In vielen Touristenbüros konnte man die sogar kaufen, weil die Regierungen es leid waren, dass die Originalschilder ständig von Reisenden als Souvenirs geklaut wurden (und unter uns: Haben Sie in Deutschland mal ein Wohnmobil gesehen, das auf der Rückseite nicht mindestens einen Elchaufkleber spazieren fährt?). Die Piktogramme auf diesen Schildern zeigen recht unbegabt wirkende Elche, die auch noch unter schrecklicher Übelkeit zu leiden scheinen. Natürlich stehen auch sie als Puppen in jedem Schaufenster. Aber auf der Straße haben wir nie einen gesehen. Na ja, einen ganz kleinen schon, der latschte vor uns über die Fahrbahn, ein Jungtier mit null Geweih auf dem Kopf. Für mich zählt das nicht.

Elche lassen sich nur höchst selten blicken. Foto: Richard Lee/unsplash

An den dritten Mythos glaubt sogar der ADAC: die Städtemaut. Weltweit wird über Für und Wider unterschiedlicher Maßnahmen gegen den Verkehrskollaps der Metropolen diskutiert und dabei immer wieder auf das skandinavische Modell der Städtemaut und deren großen Erfolg verwiesen. Wir hielten uns genau an den Rat des ADAC, stets eine ausreichende Zahl von passenden Münzen der jeweiligen Landeswährung im Auto bereit zu halten. Und tatsächlich: Schon bei der Annäherung an große Städte wiesen Tafeln unübersehbar auf die kommende Mautstation und die Gebühren für Motorräder, PKW, Wohnanhänger, LKW usw. samt Entfernung von ihr in Kilometern hin. Kurz darauf noch mal dasselbe mit geringerer Entfernungsangabe. Schließlich das Symbol für einen Schlagbaum und dann: nichts. Kein einziges Mal hat uns ein Schlagbaum aufgehalten, niemand wollte unsere Münzen. Wir sind mehrfach durch offene Mautstationen mit Tempo 80 durchgebraust. Trolle? Elche? Städtemaut? Alles Schwindel, Leute!

Jetzt hatten wir unser Lager an einem großen See nördlich der finnischen Seenplatte aufgeschlagen. Die Sonne wechselte sich bei 22 Grad mit freundlicher Bewölkung ab, und weit und breit war nichts los. Lange studierten wir unsere Karten, das so famose wie kostenlose ADAC-Material und unseren Reiseführer – hier gab es im Umkreis von 300 Kilometern absolut nichts, für das sich ein Ausflug gelohnt hätte. Also verharrten wir auf unserem Fleck, tagaus, tagein, und bewunderten die schöne Landschaft mit ihren ewigen Wäldern auf sanften Moränen-Hügeln und den See, dessen kleine Wellen leise gegen die schilfbewachsenen Ufer plätscherten. Allmählich verwandelte sich unser Blick in ein dumpfes Stieren auf immer dasselbe Bild, das sich in die Netzhaut einbrannte. Mit verheerenden Folgen: Ulrike begann, sich zu langweilen. Und wenn Ulrike sich langweilt, dann ist schnell doch was los: Sie quengelte und meckerte, wollte dauernd was essen und gähnte. Sie saß schon tagsüber im Anhänger und schaute sich auf 3sat Filme über die iranische Wüste, Namibia und die marokkanische Königsstadt Fez an. Ihre Seufzer drangen bis weit vor das Zelt. Sie wollte weg hier, einfach zu viel Natur. Dabei hatte ich erst vor fünf Tagen vier Stunden lang schwitzend das Vorzelt aufgebaut. Jetzt sollte ich es wieder abbauen, schwante mir, und meine Laune verdüsterte sich, obwohl ich ihr insgeheim Recht geben musste, und da ihre Laune bereits ruiniert war, muffelten wir uns bösartig an.

Mit der Natur war es übrigens so eine Sache. Sie war grandios und unendlich, das stimmt. Nur erwandern konnte man sie hier nicht, und da das schon in Norwegen und Schweden so war, hatten wir wenig Hoffnung, dass sich daran noch groß was ändern würde. Aberwitzige Trekkingtouren über Stock und Stein waren möglich und bei Menschen, die mir tiefes Unbehagen bereiteten, auch überaus beliebt. Aber Wanderwege, die etwa nach ein paar Stunden an den Ausgangspunkt zurückführten, gab es nicht. Es existierten zwar Wege, aber die endeten ausnahmslos nach ein paar hundert Metern an einem See. Überhaupt, wohin man sich auch wandte, stand man früher oder später an irgendeinem See. Aber da es keine Uferwege gab, konnte man auch nicht an ihnen entlang wandern. Da Ulrike, Vasco und ich aber unsere täglichen eineinhalb Stunden laufen wollten, latschten wir ein paar Kilometer immer dieselbe Landstraße hinauf und dann wieder zurück. Da lobe ich mir den Odenwald. Immerhin gab es zwei Ortschaften in der Nähe. Die eine hieß Pyhäjärmi (6 Kilometer) und die andere Pyhäsalmi (4 Kilometer). Pyhäsalmi bestand aus einer Tankstelle, zwei Banken und sage und schreibe drei Supermärkten, einem Frisiersalon, einer Taxizentrale (wozu braucht hier jemand ein Taxi?) und einer lobenswerten Einrichtung, die ebenso bündig wie einleuchtend „Alko“ hieß, sowie etwa zwanzig langweiligen Wohnhäusern. Pyhäjärmi hatte nur einen unfassbar riesigen Friedhof und ein Kirchlein zu bieten, außerdem ein Freilichttheater mit gewaltigem Parkplatz, das aber offenkundig nicht bespielt wurde. Da taten sich viele Fragen auf.

Ich widerstehe in der Regel der Versuchung, mich über fremde Sprachen lustig zu machen. Vor Sprachen habe ich generell großen Respekt. Aber wenn es um finnische Ortsnamen und die Adaption von Fremdwörtern geht, muss ich einfach eine Ausnahme machen: Auf der Fahrt hierher passierten wir ein Ortsschild, auf dem „II“ stand. Auf demselben Schild wurde auf einen offenbar zu „II“ gehörenden Ortsteil namens „YII – II“ verwiesen. Wir wussten erst nicht, ob es sich dabei um zwei L oder zwei I handelte, aber es sollten wohl zwei I’s sein, denn nicht einmal ein Finne könnte wohl zwei L’s aussprechen (das können nur Spanier, Waliser und Schotten). Der Gedanke trieb mich um und deshalb ließ ich mich von Google belehren: Das eine war so richtig wie das andere, denn die Orte hießen tatsächlich „Li“ und Yli-Li“. Fremdwörter werden einfach mit einem angehängten i bestückt, also Kioski, Halli, Wursti usw. Am Abend hatte Ulrike ihren von mir vergötterten Kartoffelsalat vorbereitet. Dazu gab es Wursti.

Litauen – „Rukymas“

Eine unverschämt teure Fähre brachte uns von Helsinki nach Tallinn. Nach einer schnellen Durchquerung der baltischen Länder hatten wir unser Lager in Nida auf einer Halbinsel, der kurischen Nehrung, aufgeschlagen (ehemals Ostpreußen, heute Litauen). Dieser Ort schien uns vortrefflich für ein mehrwöchiges Lager zu sein. Sanddünen wie in der Sahara, Wolken, die ein Impressionist gemalt haben könnte, Heide und Mischwälder und kleine Fischerorte wie aus einem Freilichtmuseum. Das ehemalige Wohnhaus von Thomas Mann konnte man ebenfalls besichtigen. In den „Supermärkten“ gab es seinerzeit kein Fleisch, keinen Fisch und auch sonst kaum etwas; das Lebensmittelangebot hatte sich seit dem Abzug der Russen nicht wirklich verbessert. Wir konnten zum Einkauf auch nicht auf das Festland fahren, denn erstens wäre das eine Fahrt von 100 Kilometern gewesen und zweitens wurden jedes Mal 50 Euro für Fähre und Nationalpark fällig.

Gleich am Anfang unternahmen wir einen Ausflug nach Lettland, um uns dort genauer umzusehen. Riga wird „Paris des Nordens“ genannt. „Luxemburg des Nordens“ wäre passender, aber schön ist es wirklich, wie all die ehemaligen Hansestädte rund um die Ostsee. Und dann der Gauja-National-Park! Man fühlte sich wie in Kanada, nur ohne Bären. Dafür gab es mal wieder Elche. Massenhaft Elche. Wir haben natürlich keinen gesehen, denn Elche gibt es nun mal nicht. Außerdem waren die wahrscheinlich gerade auf der Nehrung, da gibt es nämlich auch Myriaden von Elchen, die werden da dauernd gesehen, aber nicht von uns.

Riga hat seinen Status als Geheimtipp längst abgelegt. Foto: Gilly/unsplash

Am Tag unserer Rückkehr nach Nida passierte dann Folgendes: Hund Vasco rannte hinter einem Karnickel her und brach sich den Fuß. Ich fiel aus dem Auto und hatte Prellungen an der linken Hand, der rechten Hüfte und im Rücken. Ulrikes Knie wurde dick und das Trinkwasser braun, ich hatte den Fernseher kaputt gemacht und der Grill soff im Regen ab. Egal, Fleisch oder Würstchen gab es sowieso nicht. Dafür aber Zigaretten, auf denen nicht „Rauchen erzeugt Lungenkrebs“, sondern „Rukymas labai kenkia jums ir aplinkiniams“ stand. Schmeckten aber nicht schlecht.

Natürlich gingen wir mit Vasco zum Veterinär; der betrieb seine Praxis in einer PKW-Garage. Seine Instrumente erinnerten tatsächlich an Wagenheber, Kreuzschlüssel, Radkappen und Ölfilter. Er müsse den Fuß röntgen, erklärte er, er habe aber keinen Röntgenapparat. Er telefonierte kurz, verpasste dem Hund eine Vollnarkose, trug das 60-Kilo-Vieh ins Auto und dann ging es wohin? Zum Krankenhaus. Krankenhaus für Humanmedizin, wohlgemerkt. Dort trug er den Hund im Laufschritt über zwei Gänge und verschwand in der Röntgenabteilung. Ungefähr 60 Leute sahen das und fanden es offenbar absolut normal. Bei uns hätte es ein Mordsaufsehen gegeben: Ein Hund in der humanmedizinischen Röntgenabteilung! Jetzt humpelte Vasco mit einem Gipsbein herum. Auch gut, da konnte er nicht mehr so weit weglaufen.

Antanas

Das Baltikum gefällt uns aus Gründen, die kaum plausibel sind, bedeutend besser als Skandinavien. Die Landschaften Skandinaviens können sich mit denen des Baltikums ebenso messen wie die Städte und die Freundlichkeit der Menschen. Im Baltikum gibt es Störche. Lebende, versteht sich, also solche, die wir tatsächlich sehen konnten. Erstaunliche Menschen trifft man hier. Zum Beispiel Italiener. Die rauschten mit ihren Reisemobilen auf den Platz, packten lange Schrubber aus und wuschen ihr Fahrzeug. Die Italienerinnen lederten es ab, dann verkrochen sich alle und am nächsten Morgen fuhren sie wieder weg. Ganz anders die Deutschen. Sie stiegen aus und guckten in den Himmel. Nicht wegen der Störche, sondern wegen der Satellitenschüssel. Die wurde ausgefahren und dann 20 Minuten lang ausgerichtet, wobei die Deutsche von drinnen „besser!“, „schlechter!“ und „ganz weg!“ rief. Dann wurde gegrillt, immer vor der Tagesschau. Tja, und dann traf man auch Leute, die einen traurig machten und die uns ans Herz gingen. Antanas zum Beispiel: Antanas war eine Art Sonderling hier. Er war etwa 45 Jahre alt, hager, trug eine drahtige, graue Kraushaarfrisur und arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend, auch am Wochenende. Er hinkte fürchterlich, kniff ein Auge zu, wenn er sprach und er stotterte. Ein Depp, dachte ich zunächst. Da Antanas sehr hilfsbereit war und freundlich, kamen wir schnell mit ihm ins Gespräch. Von wegen Depp! Er sprach fließend Englisch und liebte lateinische Redewendungen. Antanas war Bibliothekar gewesen. Nach der Unabhängigkeit des Landes war seine Bibliothek geschlossen worden. Beim Bau des Campingplatz-Restaurants hatte er einen kurzen Hilfsarbeiter-Job, war vom Dach gefallen und hatte sich das Kniegelenk gebrochen. Man hatte zwei Jahre daran herumgeflickt und jetzt humpelte er hier herum und leerte die Mülleimer und goss die Blumen. Antanas war ein athletischer Typ und trotz des ersten Eindruckes sah er verdammt gut aus. Das lag vielleicht auch an seiner Belesenheit und dem Vergnügen, die die Konversation mit ihm bereitete. Und an seiner Würde. Eines Nachmittags lud er mich zu einem Bier ein. Ich horchte ihn ein bisschen aus. Antanas lebte allein. „I had two children“, erzählte er und ich fand den Ausdruck „had“ seltsam. Aber die Vergangenheitsform war korrekt: Seine Tochter war 16, als sie starb. Krebs. Sein Sohn war 19, als er sich ein Jahr später mit einer Ladung Heroin und Schnaps umbrachte. Seine Frau fand einen anderen und ließ sich von Antanas scheiden. Zum Abschied habe ich ihm Geld geschenkt, für einen freien Tag wird’s gereicht haben, hoffe ich.

Linksmiau

Nun hatte Vasco den Gips ab, hingefallen war ich auch nicht mehr und alles war schön. Wirklich alles. Besonders die Stelle im Trakai-Nationalpark, an der wir uns seit zwei Tagen befanden. Wildnis pur an einem Seeufer. Wir waren wieder auf Tour mit dem Landrover. Der Weg führte uns nach Vente, einer kleinen Landzunge im Haff gegenüber der Nehrung und dann den Lauf der Memel stromauf bis nach Kaunas, einer uralten Stadt mit einer fast mediterranen Flaniermeile und dem höchsten litauischen Bevölkerungsanteil (die Russen hatten bekanntlich im Baltikum eine heftige Siedlungspolitik betrieben). Ich kann es nicht länger für mich behalten: Etwa die Hälfte aller hochgewachsenen, schlanken, blonden, jungen Frauen Europas scheinen in Litauen zu leben und davon wiederum die Hälfte in Kaunas, und davon stöckelt ein Drittel über die Flaniermeile! Uns war von Anfang an aufgefallen, dass die Frauen hier nicht nur schön, sondern auch modebewusst waren und schon tagsüber herumliefen, als seien sie auf dem Weg zu einer Cocktailparty. Die Kleidchen und Röckchen endeten da, wo sie es bei unseren Frauen in den späten Sechzigern taten: etwa vier Handbreit unter dem Nabel. Dabei zog sich jede an, was sie wollte und was ihr stand; die damals aktuelle bauchfreie Zwangsuniform von H&M mitteleuropäischen Zuschnitts gab es in Kaunas zu dieser Zeit ebenso wenig wie H&M selbst.

Wenn ich an Kaunas denke, so habe ich immer zwei Bilder vor Augen: Die schönen Mädchen in den freundlichen Parks und Flanierstraßen und ein Foto aus den frühen vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das der SPIEGEL veröffentlicht hatte. Es zeigte einen blonden Recken in Kaunas mit einem Knüppel in einem Kreis begeisterter Einwohner. Vor ihm waren die Juden der Stadt in einer Warteschlange aufgereiht, und einer nach dem anderen musste vortreten, um von dem blonden Recken mit dem Knüppel erschlagen zu werden.

Trakai liegt nur 30 Kilometer von Vilnius entfernt, dicht an der weißrussischen Grenze, und unser Hiersein beruhte auf einem pfiffigen Plan: Wir wollten nämlich in drei Tagen Freunde am Flughafen in Vilnius abholen, abends um halb zehn. Deshalb war der Plan, ihnen vorher ein Hotelzimmer zu besorgen, gemeinsam zu speisen und am nächsten Tag die Stadt zu besichtigen. Als Unterkunft sollte am Folgetag eine originale Nationalpark-Hütte mit Steinzeit-Flair und Wackelgrill dienen. Der Haken: Wir erhielten einen Anruf unserer Freunde, mit der Mitteilung, dass sie, wie vereinbart, am übernächsten Samstag hier einträfen. Ich hatte mich im Datum geirrt. So verbrachten wir halt noch eine Woche im Aukstaitijos-Nationalpark, der wurde in unserem Reiseführer gepriesen. Wir bereuten keine Sekunde unseres Aufenthaltes im Park, der uns wilder Einsamkeit aussetzte und den Eindruck vorgaukelte, in einem früheren Jahrhundert gelandet zu sein.

Ansonsten trieb mich zehn Tage lang die Frage um, was linksmiau ist. Bei einer Werbeaktion für Käse in Nida hieß es nämlich „99,9 Prozent linksmiau!“ Das hat mich seltsam berührt, weil ich mich selbst eigentlich immer irgendwie ein bisschen linksmiau fühle. Nun weiß ich, warum: „Linksmiau“ heißt „glücklicher“.

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