Spitzbergen – Besuch im Außerirdischen


Rolf Stärk ist ein Globetrotter, wie er im Buche steht. Ob Sansibar, Syrien oder Spitzbergen: kein Weg war zu weit, kein Ziel zu ausgefallen, keine Herausforderung zu groß. Dutzende Länder rund um den Globus hat der Kölner in den vergangenen Jahrzehnten bereist, viele davon mit seiner Frau Ulrike und seinen beiden Hunden Vasco und Balou. Im Rahmen unserer Serie „Fernsucht“ veröffentlichen wir alle zwei Wochen einen Auszug aus dem gleichnamigen Buch, das noch 2019 erscheinen wird. Lesen Sie in Folge 7, wie Rolf Stärk nach Spitzbergen reist – und warum man bei Wanderungen in der Arktis stets ein Gewehr mitnehmen sollte …

Der Norden bietet außerordentliche Vielfalt und wundervolle Landschaften, das war mir auf einer früheren Skandinavienreise klar geworden, die allerdings mit herrlichem Wetter geprotzt hatte. Aber im tiefsten Inneren erging es mir immer ein wenig wie dem armen amerikanischen Touristen, der meine in Kopenhagen lebende Schwiegermutter zunächst mit der Frage überraschte, ob sie „native“, also Eingeborene sei, um anschließend seine Verwunderung über das Fehlen von Eisbären in der Stadt zu äußern. Mir fehlte einfach der höchste – also „richtige“ – Norden, also der mit Eisbären und Permafrost, Roald Amundsen und Fridtjof Nansen. Auf Lofoten beschloss ich im Sommer 1985, diesem Mangel abzuhelfen, und zwar ohne Begleitung.
Ich suchte ein Reisebüro auf und legte meinen Wunsch dar, für eine Woche nach Spitzbergen zu fliegen. Die blonde alerte Reisebüroschönheit zeigte sich nicht verwundert, sondern skeptisch. „Tourismus gibt es dort eigentlich nicht, aber mal sehen, ob was frei ist“, meinte sie; ich fand das etwas widersprüchlich. Nach einigen Telefonaten eröffnete sie mir erfreut, dass zufällig ein Etagenbett in einem Arbeiterheim frei sei. Das traf exakt meinen Geschmack und verhieß Erfüllung meiner Permafrostträume. Begeistert bestieg ich verschiedene kleine Propeller- und ein großes Düsenflugzeug einer Fluggesellschaft mit dem eigenartigen Namen „Widerøe“. Wir überflogen die Große Bäreninsel und landeten nach vielstündigem Flug in Longyearbyen. Das ist die Hauptstadt von Svalbard, wie die nördlichste Inselgruppe der Welt heißt, die wir unter der irreführenden Bezeichnung Spitzbergen kennen. Spitzbergen ist nur eine der Inseln des Archipels.

Foto: Thomas Lipke/unsplash

Gespannt spähte ich bei der Landung aus dem Fenster: von Schnee und Eis weit und breit keine Spur. Stattdessen fünf in einer Reihe stehende lange Holzbaracken. Immerhin gab es im winzigen Flughafengebäude einen Schalter der Autoverleihfirma Avis. Angesichts der eisfreien Landeumgebung schien mir ein Leihwagen nicht die schlechteste aller Ideen zu sein. Nassforsch legte ich meinen linken Ellenbogen auf den Avis-Tresen und erkundigte mich nach dem Preis des kleinstmöglichen Autos. Der Mann hinter dem Tresen musterte mich, als sei ich ein seltenes Insekt: „Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ein Auto mieten wollen? Es gibt hier nur eine einzige asphaltierte Straße, die ist zwei Kilometer lang und führt ins Zentrum von Long­yearbyen. Außerhalb dieser Straße darf niemand mit einem Auto fahren, nicht einmal mit einem Geländewagen!“ Ich war verwirrt. „Ja und warum vermieten Sie dann Autos?“ – „Wir haben hier noch nie ein Auto vermietet, aber unsere Gesellschaft wirbt weltweit damit, die nördlichste Autoverleihstation der Welt zu besitzen!“ Aha.

Ich ließ mich also wie alle anderen Fluggäste mit meinem Gepäck von einem Großraumtaxi ins zwei Kilometer entfernte Zentrum von Longyearbyen bringen. Da ich indes wegen der Avis-Plauderei die letzte Fahrt verpasst hatte, musste ich den unerhörten Fahrpreis allein bezahlen, den sich kurz zuvor die Fluggäste untereinander geteilt hatten. Hätte ich das vorher geahnt, wäre ich zu Fuß gegangen. Downtown Longyearbyen wurde ich am Zentralgebäude abgesetzt, der mittleren der fünf Holzbaracken. Beklommen blickte ich mich um: Hier war ich also und so also sah es in Nordpolnähe aus. Das Gebäude erfüllte offenbar eine Vielzahl von Funktionen und eine davon war jedenfalls so etwas wie eine Rezeption für Neuankömmlinge. Ich wurde bereits erwartet und man wies mir ein bestimmtes Zimmer in einer bestimmten Baracke zu. Mit einem in die Hand gedrückten Schlüssel an einem pfundschweren Anhänger und einem Informationszettel, den zu lesen ich mir für einen späteren Zeitpunkt aufhob, wurde ich entlassen. Jetzt galt es erst mal, mein Zimmer zu finden, dann, etwas Vernünftiges zu essen und schließlich, ins Bett zu kommen, denn die Anreise war lang und anstrengend gewesen.

Die Inselgruppe, die in den Schulatlanten meiner Kindheit einem dem Nordpol nahegelegenen Stecknadelkopf glich, ist in Wahrheit doppelt so groß wie die Schweiz. In ihrer längsten Ausdehnung erstreckt sie sich über fast tausend Kilometer. Zu der Zeit besaß sie tatsächlich noch eine Hauptstadt. Die bestand aus den fünf erwähnten mächtig langen zweigeschossigen Baracken, deren Abstände voneinander jeweils fast einen Kilometer betrugen, sowie zwei abseits angeordneten kleineren Häusern. Mein Zimmer lag in Baracke Nummer vier, ich musste mein Gepäck also nur etwa anderthalb Kilometer weit tragen, die richtige Tür finden, aufschließen und mein Zimmer suchen. Das war nicht groß, aber hell und in freundlichen Pastellfarben gestrichen, verfügte über ein Bad, einen Schreibtisch und zwei Etagenbetten, von denen augenscheinlich keines belegt war. Es war zehn Uhr abends, taghell und mir leuchtete sofort der Sinn des lichtdichten Fensterrollos ein, mit dem sich das Zimmer in eine Dunkelkammer verwandeln ließ. Ich verstaute mein Gepäck und machte mich auf den Weg zurück zur Zentralbaracke, denn dort hatte ich ein Kantinenschild gesehen. Draußen schaute ich mich erst mal um. Zunächst wurde mir klar, warum der holländische Seefahrer, dessen Segelschiff es hierher verschlagen hatte, den Boden unter meinen Füßen Spitzbergen getauft hatte. Solche Bergformationen hatte ich noch nie gesehen: Longyearbyen mit seinem Hafen liegt am Ende eines abfallenden Tals, das erkennbar von einem Gletscher ausgeschabt worden war, und ringsum erhebt sich ein Gebirge, das ausnahmslos die Form hunderter spitzer, enorm hoher Zipfelmützen hat. Irdisch sieht das wirklich nicht aus. Dann blickte ich in den unbedeckten Himmel: Das helle, völlig farblose Licht ließ die Welt hier unten wie ein Schwarzweißfoto erscheinen und entstammte einer Sonne, die nicht die meine war. Ich kannte bis dahin unsere Mitternachtssonne nördlich des Polarkreises auf dem europäischen Festland und auf Grönland, die ihren Lauf nicht mehr unter den Horizont schafft und wie ein großer Götze um Mitternacht die Welt mit ihrem Rot färbt. Diese fremde Sonne hier stand klein und weiß direkt in der Himmelsmitte und hatte keinen Lauf mehr, war wie eine Reispapierlampe aufgehängt und verharrte immer am selben Fleck. Die Gebäude standen wegen des Permafrostes auf Stelzen, wirkten spinnenhaft und waren untereinander durch beheizte Rohrleitungen verbunden, die ebenfalls auf Stelzen ruhten. Das hätte eine Marsstation sein können, wenn die Menschen nicht ohne Helme und Raumanzüge herumgelaufen oder gar mit dem Fahrrad unterwegs gewesen wären.

Foto: Thomas Lipke/unsplash

In der Zentralbaracke, die auch Post, Theater, Kino, Supermarkt und irgendeine Behörde beherbergte, wandte ich mich der Kantine zu, die zu meinem Erstaunen rund um die Uhr geöffnet hatte. Sie entpuppte sich als eine Art Nobelrestaurant für arktische Arbeiter, bot erlesene Speisen und seltene Spitzenweine zu geradezu lächerlichen Preisen an. Der Laden war zweifelsohne wie alles auf Svalbard hoch subventioniert. Die Menschen, die hier arbeiteten, waren gutbezahlte Spezialisten, zwar in Baracken kaserniert, aber verwöhnt wie Bohr­inselarbeiter, denn das Leben in der absolut lebensfeindlichen Arktis ist hart. Ich gönnte mir ein wunderbares Menü und registrierte verwundert, dass an meinem Nebentisch gefrühstückt und an einem weiteren Tisch ein Mittagessen eingenommen wurde. Ich war auf einem Planeten ohne Tageszeiten gelandet, das blieb nicht ohne Auswirkung auf meinen Biorhythmus. Meine Müdigkeit war einer entschiedenen Unternehmungslust gewichen, also machte ich mich erst mal zu einer Besichtigungstour auf.

Der Sysselmann – König eines Niemandslands

Eines der beiden außerhalb der Barackenreihe stehenden Häuser wurde als Museum genutzt, das andere war das Wohnhaus des Sysselmanns. Der Sysselmann ist der norwegische Beamte, der wie ein norwegischer Vizekönig für Svalbard zuständig ist, dabei gehört der Archipel keineswegs zu Norwegen, eigentlich handelt es sich um Niemandsland. Ich hätte also theoretisch einen eigenen beliebig großen Claim abstecken, ihn zum Königreich Stärkland ausrufen und eigene Briefmarken drucken lassen können. Dann hätte mich allerdings der Sysselmann eingesperrt, denn die Inselgruppe war 1920 vom Völkerbund unter norwegische Verwaltung gestellt worden, ein Protektorat also. Svalbard besaß nie Ureinwohner, denn nicht einmal Eskimos hätten dort eine Überlebenschance gehabt. Als erste Menschen betraten im 16. Jahrhundert russische Mönche die Inseln, um Polarfüchse zu jagen. Im 17. Jahrhundert gab es einen nur wenige Jahrzehnte andauernden Walfangansturm und am Anfang des vorigen Jahrhunderts begann der Kohleabbau. Vom Museum mit so einigen Geschichtskenntnissen ausgestattet, setzte ich meine Entdeckungstour fort. Auf einem kleinen Friedhof an der Küste betrachtete ich die wenigen Gräber, die die Mönche hinterlassen hatten, eine gruselige Angelegenheit, denn es wäre unmöglich gewesen, aus dem dauergefrorenen Boden Gräber auszuheben. Tote waren einfach auf die Erde gelegt und mit Steinen zugedeckt worden, um sie vor Raubtieren zu schützen. Zwischen den runden Steinen war genug Platz, um hindurch zu lugen und die Skelette zu betrachten. Als nächstes nahm ich mir vor, die Reste eines stillgelegten Kohlebergwerkes zu besichtigen, dessen Überbleibsel ich zuvor von meinem Zimmerfenster aus entdeckt hatte. Es lag talaufwärts kurz vor dem Gletscher, der sich schon damals ein ordentliches Stück zurückgezogen hatte. Nach wenigen Schritten hörte ich ein keckerndes Knattern über mir, ausgestoßen von einem spitzschnabeligen kleinen Vogel, der sich anschickte, im Sturzflug meinen Kopf zu attackieren.

Der Schreck ließ mich einen Schritt zurücktreten. Sofort verstummte der Vogel und drehte ab. Seltsam. Ich machte erneut einen Schritt vor und auf der Stelle begann der Luftangriff des kleinen Wüterichs erneut. Ich hatte es mit einer brütenden Seeküstenschwalbe zu tun. Diese Vögel fliegen tatsächlich zweimal im Jahr von Pol zu Pol, eine unfassbare Leistung. Sie legen ihre Eier mangels des erforderlichen Materials nicht in Nester, sondern zwischen die runden grauen Strandkiesel, wo sie unentdeckt bleiben, denn sie sehen exakt so aus wie die sie umgebenden Kieselsteine. Um dieses Gelege herum errichten die Vögel einen unsichtbaren Bannkreis. Was draußen ist, bleibt unbeachtet, aber ein einziger Schritt über die imaginäre Schutzzone löst einen heldenhaften und ernst zu nehmenden Angriff aus. Und noch eine Besonderheit zeichnet diesen kleinen Vogel aus: Auf den Inseln des Archipels brüten dicht an dicht Millionen Eiderenten. Diese Enten – wollen sie nicht verhungern – müssen ab und zu ihr Gelege verlassen, um auf Nahrungssuche zu gehen. Eine Nachbarin passt so lange auf die bebrüteten Eier auf; oft belohnt sie sich dafür, indem sie heimlich eines der Eier klaut und mit ihrem Schnabel das Diebesgut aus dem fremden in das eigene Nest kullert. Kaum sind die Küken geschlüpft, setzt ein Massensterben ein, denn die Eismöwen, gewaltige Vögel, die 70 Zentimeter lang und teilweise mehr als zwei Kilo schwer sein können, betrachten die Küken als Bereicherung ihres Speiseplans. Sie schnappen sich, was sie nur kriegen können, und die körperlich weit unterlegenen Entenmütter sind völlig hilflos. Vermutlich würden nur wenige der jungen Eiderenten überleben, wären da nicht die Seeküstenschwalben. Die stürzen sich in der beschriebenen Sturzkampfbomberart mit Geknatter auf die 30-fach größeren Eismöwen, hacken auf deren Köpfe und Augen und schüchtern sie derart ein, dass sie flüchten. Niemand weiß, wie diese eigenartige Symbiose zustande kommt, denn es ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil die Seeküstenschwalben aus ihrem Verhalten ziehen.

Foto: Chris Marquardt/unsplash

Der Weg zum Bergwerk erwies sich als viel weiter und vor allem mühsamer als von mir erwartet. Irgendwie hatte ich mich wohl in der Entfernung verschätzt. In Jetzt-erst-recht-Stimmung setzte ich den Aufstieg fort und stieß auf ein unerwartetes Hindernis. Ein kleiner Schmelzwasserbach kreuzte meinen Weg, den ich in meiner Welt mühelos hätte überqueren können, nicht aber auf diesem fremden Planeten. Der Bach hatte sich über Jahrtausende ein Kiesbett gegraben und hier sehen Kiesbetten anders aus als bei uns: Die Kiesel haben Durchmesser zwischen 80 Zentimetern und zwei Metern und liegen – wie bei uns auch – dicht übereinander und umeinander herum. Eine solche Barriere zu überqueren, ist nicht nur ziemlich gefährlich, sondern kostete mich weit über eine Stunde verrückter Kletterei über ein Labyrinth. Als ich mein Ziel erreicht hatte, beäugte ich ein paar rostige Maschinen, deren Zweck ich nicht enträtselte, sowie Stolleneingänge und -schächte, in die ich mich nicht hineintraute. Ich hatte in der Welt der ewigen Helligkeit glatt vergessen, eine Taschenlampe einzustecken. Der Rückweg dauerte Stunden, und zurück in meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen und schlief ein. Ich war seit meinem Abflug ganze 72 Stunden unterwegs gewesen, ohne es zu merken.

Mit dem Rad durch eisige Gefilde

Am Folgetag schaute ich beim Erwachen nicht einmal auf die Uhr, es war völlig bedeutungslos geworden, wie lange ich geschlafen hatte und in welcher Tageszeit ich erwacht war. Ich lebte in meiner Zeit und jeder andere hier in jeweils der seinen, eine Tatsache, die die Menschen aneinander vorbeitreiben ließ wie Fische auf einem PC-Bildschirmschoner. An der Zentralbaracke wurden Fahrräder vermietet. Frohgemut suchte ich mir eines aus, steckte meine Taschenlampe ein und los ging es zum nächsten Bergwerk, denn ich wollte doch einmal sehen, wie diese aufgegebenen Gruben aussahen. Die heute überwiegend ausgebeuteten Bergwerke förderten Kohle, und ihre Besonderheit besteht darin, dass ihre Flöze nicht unter Tage liegen. Sie führen waagerecht durch die Berge, gerade so, als hätte ein außerirdischer Konditor mit einem breiten Messer alle Zipfel der Berge mit einem Streich geköpft, eine gleichmäßige Kohleschicht auf die Stümpfe aufgetragen und die Zipfel anschließend wieder aufgesetzt. Ganz Spitzbergen ist im Grunde eine Steinkohlentorte.

Außer Norwegern befinden sich nur noch Russen auf den Inseln. In Barentsburg bauen sie offiziell noch Kohle ab, aber alle Welt glaubt, dass das nur ein Vorwand ist, um ihre Spionagetätigkeit zu verschleiern, die sich gegen die NATO im Polarkreis richtet. Mein Ziel lag an der Küste entlang landeinwärts in halber Berghöhe, sah besser erhalten aus als das gestrige und schien mir zum Greifen nahe, also radelte ich drauf los. Ich radelte und radelte und radelte, aber mein gut sichtbares Ziel schien nicht einen Millimeter näher zu kommen. Ich glaubte, mein Herz pochen zu hören und lauschte meinem Atem, denn die Stille ringsum hätte mich an ein Versagen meines Gehörs glauben lassen, wären da nicht die Reifen- und Kettengeräusche des Fahrrades gewesen. Doch hin und wieder sträubten sich mir die Haare und eine Gänsehaut jagte über meinen Rücken, denn ein entsetzliches Donnern und Grollen fiel über mich her, dessen Ursache ich trotz panischen Umherschauens nicht zu ergründen vermochte. In Wahrheit hatte ich es mit lebensgefährlichen, aber weit entfernten und unsichtbaren Gerölllawinen zu tun, die die vermeintliche Gehörlosigkeit jäh unterbrachen. Unterwegs war ich an ein paar Zelten vorbeigekommen, um die einige Franzosen herumwuselten, die alle Gewehre trugen. Ich beachtete das nicht weiter, weil ich ja nicht wusste, in welcher Zeit sie sich befanden, sondern radelte tapfer weiter, obwohl meine Muskeln schmerzten, insbesondere meine Gesäßmuskeln. Hin und wieder hielt ich an kreisrunden Steinformationen in unterschiedlichem Erhaltungszustand an. Es musste sich um die Walkochstationen des 17. Jahrhunderts handeln, von denen ich gelesen hatte. Zu der Zeit hatten riesige Fangflotten der Engländer, Franzosen und Holländer in kurzer Zeit die Wale und Walrosse rund um Svalbard komplett ausgerottet und zu Tran verkocht. Damit hatten sie die Straßen in London und Paris beleuchtet, das war’s dann mit den Walen. Bald konnte ich einfach nicht mehr, ich war meinem Ziel nicht näher gekommen und dennoch seit Stunden unterwegs. Mir schien: Hier galten andere physikalische Gesetze. Die wahre Ursache für das Phänomen bestand darin, dass die Luft auf Spitzbergen absolut staubfrei und damit so durchsichtig war wie eine Zeisslinse. Es war unmöglich, Entfernungen zu Sichtbarem abzuschätzen. Ich schreibe bewusst „war“, denn ich bin mir keineswegs sicher, ob sich das heute angesichts regelmäßiger Kreuzfahrtschiffsbesuche der Hurtigruten und zahlreicher Touristen nicht geändert hat.

Ich gab auf und wendete mein Rad, nur um bald festzustellen, dass ich den ganzen Weg über noch nicht bergauf, sondern leicht abschüssig und mit Rückenwind gefahren war. Meist gehend und nur selten auf meinem schrecklich schmerzenden Hintern radfahrend nahm der Rückweg kein Ende.

Nach dem nächsten Erwachen in meinem abgedunkelten Zimmer fiel mein Blick auf den mir beim Einchecken ausgehändigten Informationszettel. Ich las unter allerlei nützlichen Hinweisen auch den dringenden Rat, sich keinesfalls ohne Gewehr außerhalb von Long­yearbyen zu begeben, denn seitdem die Eisbären unter strengem Schutz standen, hatte sich deren Population derart erholt, dass sie eine ernstzunehmende Gefahr darstellten. Man war daher verpflichtet, sich nach der Ankunft beim Sysselmann zu melden, um eine kurze Einweisung und ein Leihgewehr samt mehrerer genau abgezählter und registrierter Patronen zu erhalten und belehrt zu werden, dass man auf angreifende Eisbären erst nach mehreren Warnschüssen feuern dürfe. Ups! Das hätte ich wohl doch eher lesen sollen und begab mich zum Sysselmann. Dort empfing mich eine junge Frau, die mir leichthändig einen mir schrecklich schwer erscheinenden Schießprügel in die Hand drückte, mir dies und jenes erklärte und mich aufforderte, ein paar Schüsse auf eine Zielscheibe abzugeben. Ich habe keinerlei Wehrdiensterfahrung und kenne Gewehre nur von Kirmes-Schießbuden. Ich legte an, ließ es krachen und beschloss, Eisbären möglichst aus dem Weg zu gehen. Offenbar schleppte ich mein Gewehr nicht mit der erwarteten Begeisterung davon, denn die junge Frau fühlte sich zu weiteren Ermahnungen ermuntert: „Bitte nehmen Sie die Sache ernst, denn erst vor 14 Stunden sind nicht weit von hier drei französische Forscher von einem Eisbären attackiert worden. Sie hatten in ihrem Zelt geschlafen und waren von dem Bär geweckt worden, weil er ihr Proviantzelt durchwühlte. Sie haben den Fehler gemacht, ihn daran hindern zu wollen, ohne Warnschüsse abzugeben.“ Na bombig, das waren die Franzosen, an denen ich vorbeigeradelt war. Seitdem schleppte ich mit Crocodile-Dundee-Attitüde mein Schießgewehr überall mit herum, sogar in die Kantine und auf die Toilette – so, wie den Franzosen sollte es mir jedenfalls nicht ergehen; sollten mich meine Mitweltraumbewohner ruhig für bescheuert halten.

Foto: Mathieu Ramus/unsplash

Gegenüber von Longyearbyen auf der anderen Seite des Fjords befand sich – wie mir versichert wurde – der größte Gletscher der Welt, der auch deutlich zu sehen war. Regelmäßig kalbte er und es brach eine Wand aus Eis ins Meer, mächtig wie ein ganzes Gebirge. Wieder hörte ich das Grollen wie eine Explosion und Stunden später schlug eine Flutwelle an die Küste – das hätte mir zu denken geben sollen. Mir war inzwischen klar, dass ich mich in der Entfernung sicher verschätzte und beschloss, einen Fischer zu fragen, ob er mich einen Tag lang zu dem Gletscher bringen könne, denn so lange würde es wohl dauern. „Morgen oder übermorgen?“, verstand ich und schlug übermorgen vor. Der Fischer korrigierte mich: „Nein, ich meine morgen und übermorgen!“
Die Luft war nicht nur staubfrei, sondern auch keimfrei. In der Kantine fragte mich ein Gesprächspartner: „Weißt du, wann alle hier einmal jährlich einen Schnupfen bekommen?“ Ich verneinte. „Na, an Weihnachten, wenn sie ihre Geschenkpakete vom Kontinent auspacken!“
Nach einer Woche bestieg ich mein Raumschiff zurück auf die Lofoten.

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