Mit dem Geländewagen von Deutschland bis nach Indien. Mathias Vatterodt erfüllte sich diesen Traum und erlebte auf seiner Overland-Reise zahlreiche unvergessliche Abenteuer. Seine unbändige Neugier führte ihn unter anderem in die entlegensten Gegenden des Kaukasus, durch die schier unendlichen Weiten des Irans, in die schwindelerregenden Höhen des Himalaya und durch den geheimnisvollen Dschungel Südostasiens. „Wild Road Trip: Der lange Weg nach Indien“, das Buch zur Reise, erscheint im September 2019 im MANA-Verlag. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es schon jetzt.
Die am See liegenden heißen Quellen nutzten wir für ein langersehntes Bad. Das schweflige Wasser wurde direkt über einen Wasserhahn in einen hölzernen Bottich geleitet. Die kleine, unscheinbare Wohlfühloase am Wegesrand lag auf 4500 Metern und dürfte damit wohl zu den höchstgelegenen Spas der Welt zählen. Das heiße Wasser hatten wir überdies dringend nötig, denn die Nacht an unserem Lager am Ufer des Sees sollte bitter kalt und stürmisch werden. Wir ließen den See und damit das westliche Tibet hinter uns und drangen nach Zentraltibet ein. Damit betraten wir das Quellgebiet des Brahmaputra, eines der längsten Flüsse der Welt. Klein und unscheinbar floss der Yarlung Tsangpo – so wird der Fluss im Oberlauf genannt – neben der Straße her. Mehrmals überquerten wir auf kurzen BrüÂcken den Strom. Kaum zu glauben, dass ich zwei Monate später denselben Fluss einige tausend Kilometer stromabwärts erneut überqueren sollte, dann aber auf einer Brücke, die mehrere Kilometer lang war. Das Wetter wurde ungemütlich, die Landschaft wusste dies aber zu kompensieren. Völlig aus dem Nichts tauchte auf einmal eine Sandwüste neben der Straße auf und wirkte hier komplett fehl am Platz, ebenso wie die vereinzelten blauen Seen, die sich zwischen den Sanddünen befanden. Es war eine Kulisse, die sich bis heute tief in mein Gedächtnis gebrannt hat.
Unser nächstes Ziel sollte das Basislager des Mount Everest sein und alle aus der Gruppe hofften auf Wetterbesserung. Wann hat man schließlich mal die Gelegenheit vor dem höchsten Berg der Erde zu parken? Auf langen Tagesetappen näherten wir uns dem Everest und wurden dabei von den schönsten Facetten der Natur bei Laune gehalten. Über das Walkie-Talkie tauschten wir uns über die atemberaubenden Ausblicke, überraschenden Bodenwellen und aggressiven entgegenkommenden LKW-Fahrer aus. Während wir wieder einmal eine Serpentinenstraße entlangfuhren, meldete sich der vorausfahrende Jürgen über Walkie-Talkie zu Wort. „Seht ihr da vorne diese kleine Abkürzung …?“ – so beschrieb Jürgen eine kleine Schotterstraße, die steil von der Straße abbog, um eine Spitzkehre abzukürzen. „Wer sich traut, diese Abkürzung zu fahren, der bekommt von mir ein Freibier!“ Ich war soeben an der Abzweigung angekommen und schaute Lydia an. „Das war mir so klar“, antwortete sie nur noch auf meinen Blick, schon war der Allrad-Modus mit Untersetzung eingeschaltet und der Pajero kraxelte die Piste hoch. Der Neigungsmesser zeigte 30 Prozent Steigung an, von hinten schallte es hysterisch: „Neeeein, ihr könnt nicht auf dieser Straße fahren, die ist nur für Fahrzeuge, die runterfahren. Das ist gefährlich!“ Unser Guide war sichtlich überfordert mit der Situation, Lydia hielt sich am Griff fest und ich drückte auf das Gaspedal, denn der Anstieg wurde immer steiler. Jetzt konnte ich nicht mehr stehen bleiben, sonst hätte ich verloren. Die Abkürzung endete nach einer steilen Kante wieder auf der Straße, doch mit meinem Schwung sprang ich regelrecht drüber, sodass ich noch nicht einmal aufsaß. Für diese spontane Geländeaktion erntete ich Applaus über das Walkie-Talkie und wütendes Grummeln von Butschung. Zwei Tage später löste Jürgen sein Versprechen ein und händigte mir das Bier aus, dazu auch eins für Lydia und unseren Guide, da die beiden ja schließlich mitgefahren waren. Wir übersetzten dies Butschung, der zwar lachte, aber trotzdem nicht so richtig verstand, warum er plötzlich früh um 11 Uhr ein Bier in die Hand gedrückt bekam. Wir waren noch keine fünf Minuten wieder unterwegs, als wir es von hinten schon zischen hörten und sahen, wie sich unser Guide das Bierchen genehmigte. Plötzlich war er so redselig wie nie zuvor. Denn zuvor drangen hauptsächlich Schnarchen und gelegentliche Telefonate in den vorderen Bereich des Pajeros, ansonsten hüllte sich unser teuer bezahlter Guide leider viel zu oft in Schweigen.
Foto: Mathias Vatterodt
Über einen Pass gelangten wir in ein breites trockenes Tal. Ruinen von Festungen und Türmen zeugten von einer Zeit, in der Gletscher dieses Tal regelmäßig mit Wasser versorgt, Bauern ihre Felder bewirtschaftet und Fürsten ihre Ländereien mit angsteinflößenden Wehranlagen geschützt hatten. Doch das war lange her. Die Gletscher hatten sich zurückgezogen und mit ihnen die Bewohner des einst so fruchtbaren Gebiets, welches seitdem immer mehr wüstenartige Züge angenommen hatte. Plötzlich und unerwartet zugleich tauchte am Horizont der König der Berge auf. „Da hinten seht ihr den Qomolangma“, erklärte uns unser Führer von der Rücksitzbank. Zunächst wussten wir nicht, was das für ein Berg sein sollte, dann stellte er aber klar „Das ist der tibetische Name für den Mount Everest. Auf Tibetisch bedeutet das „Mutter der Erde“. Wir waren überrascht, denn von weitem sah der Berg gar nicht so riesig aus.
Für einen halben Tag verschwand der Everest wieder hinter den hohen Bergen der Täler, die wir durchfuhren. Erneut mussten wir diverse Checkpoints passieren. Diesmal mussten wir allerdings auf die Geschwindigkeit achten. Die Beamten gaben uns eine Zeit, vor der wir nicht am nächsten Checkpoint sein durften. Butschung brachte die Zeiten aber durcheinander, sodass wir vor dem nächsten Checkpoint fast eine halbe Stunde warten mussten, obwohl wir nun wirklich nicht zu schnell unterwegs waren. Im Konvoi fuhren wir aufgrund des schwachen Motors der Holländer nicht schneller als 70 Kilometer pro Stunde, was mir zusammen mit der dünnen Luft einen sagenhaften Durchschnittsverbrauch von 7,5 Litern auf 100 Kilometer bescherte. Auf den deutschen Autobahnen benötigte ich fast das Doppelte. Die letzten 80 Kilometer bis zum Basislager des Everest wurden noch einmal richtig teuer. Besucher müssen einen Eintritt für den „Nationalpark Everest“ zahlen, der bei umgerechnet 30 Euro liegt, dazu wurden Straßenbenutzungsgebühren von 50 Euro pro PKW fällig. Wir überlegten noch, ob wir uns nicht zusammenschließen sollten, um nur mit zwei Autos die letzten Kilometer zum Basecamp zurückzulegen. Doch wenn man fast 20.000 Kilometer durch die Welt gefahren ist, um einmal mit dem eigenen Auto vor dem höchsten Berg der Erde zu parken, dann schaut man nicht mehr aufs Geld. Trotzdem belasteten die überdurchschnittlich hohen Eintrittsgelder, die in China fällig wurden, die Brieftasche. Und dass die Gelder dann tatsächlich zweckmäßig verwendet werden würden, wurde von uns eher bezweifelt. Egal, wir erleichterten unsere Bargeldvorräte und fuhren zu einem 5200 Meter hohen Pass hinauf, der uns noch vom Everest trennte. Die Aussicht, die uns anschließend von der Natur dargeboten wurde, zählte zu den beeindruckendsten Bergpanoramen, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Vor uns erstreckte sich unter dem mächtigen, blauen und wolkenfreien tibetischen Himmel der Hauptkamm des Himalaya. Wie in einem Farbspektrum ging das Braun des Bodens in das Weiß des ewigen Eises über, das sich waagerecht in einer Linie von der Landmasse abgrenzte. Mit einem Blick sahen wir gleich vier der 14 Achttausender: den Makulu (8485 Meter), den Lohtse (8516 Meter), den Everest (8848 Meter) und den Cho Oyu (8188 Meter). Noch eine Weile verweilten wir auf dem Pang La Pass. Alle Paare waren unter sich, machten Fotos, strahlten. Der nächste Höhepunkt dieser Reise war erreicht. Später kamen wir dem Everest sogar noch ein Stück näher, als wir unser Lager vor dem Rongpu-Kloster aufschlugen. Hier auf 5000 Metern Höhe waren wir nur 20 Kilometer von der Nordwand des Everest entfernt. Im Winter kann es an diesem Ort bis zu minus 50 Grad kalt werden, doch wir hatten einen warmen Herbsttag erwischt, in der Nacht wurden lediglich minus zehn Grad erreicht. Bevor ich schlafen ging, stieg ich nochmals auf eine kleine Anhöhe hinter dem Kloster. Der Mond beleuchtete den Bergriesen vor uns. Obwohl kein elektrisches Licht schien, war es fast taghell. Der Berg zog meinen Blick unentwegt an und ich verstand plötzlich, warum der Everest schon für viele Menschen zum Scharfrichter geworden war. Fast 4000 Meter war der Gipfel höher als unser Standort. Schon hier fiel uns das Atmen schwer, schon hier war es eisig kalt. Wie war es wohl da oben? Friedlich stand der Berg im Mondlicht und lauschte geduldig meinen Gedanken.
Hinter uns lag die kälteste Nacht auf der Reise. Über unsere Schlafsäcke hatten wir extra noch eine dicke Decke geschlagen, die aber auch nur wenig half. Die Wasserflasche neben mir war am nächsten Morgen komplett gefroren, die Fensterscheiben waren von Innen vereist. Eis bildete sich sofort auch auf der Zahnbürste, doch vor diesem Panorama war jede Kälte erträglich. Der Pajero hatte einige Anlaufschwierigkeiten, spuckte aber dann trotzdem schwarze Rußwolken aus, bevor er ansprang und uns langsam wieder vom Everest entfernte.
Nach dem eigentlichen Plan hätten wir Tibet zu diesem Zeitpunkt schon hinter uns gelassen. Aber fast schien es so, als wären alle froh, dass die Grenze nach Nepal noch immer geschlossen war. Dieses Hochland mit den Schneeriesen, den vielen Seen, den sonderbaren Farben, den wilden Tieren und der mystischen Kultur ließ uns nicht los. Und so nahmen wir den Friendship-Highway zwischen Lhasa und Kathmandu in die entgegengesetzte Richtung und näherten uns langsam der verbotenen Stadt Lhasa, bis zum Einmarsch der Chinesen Sitz des Dalai Lama. Die Bezeichnung „Landstraße der Freundschaft“ ist allerdings leicht irreführend, denn noch immer sind die Beziehungen zwischen Nepal und China nicht die freundschaftlichsten.
Auf dem Pang La-Pass sinken die Temperaturen bisweilen auf -50 °C. Foto: Mathias Vatterodt
Der Buddhismus – eine vielschichtige Religion
Auf dem Weg nach Lhasa lagen mit den Städten Shigatse und Gyantse zwei bedeutende religiöse tibetische Kulturzentren. Gyantse war einst wirtschaftlicher Mittelpunkt Tibets, während das Kloster Tashi Lhunpo auch der Sitz des Panchen Lama ist.
Wie im Islam teilt sich auch der Buddhismus in unterschiedliche Religionsgemeinschaften auf, wenngleich sich diese nicht feindlich gegenüberstehen. Guru Rinpoche brachte den Mahayana-Buddhismus nach Tibet, welcher nach der stufenweisen Erleuchtung aller Lebewesen strebt. Positives und gutes Tun hat dabei eine Auswirkung auf die spätere Wiedergeburt. Aber auch magische Rituale spielten im frühen tibetischen Buddhismus eine wichtige Rolle, weswegen die Religion von den Anhängern der mystischen Bön-Religion zum Teil assimiliert wurde. Der tibetische Buddhismus spaltete sich mit der Zeit in verschiedene Schulen. Mit dem Kadampa-Orden fasste der Buddhismus im 8. Jahrhundert Fuß, war aber trotzdem einer ständigen und blutigen Rivalität zu den Anhängern der Bön-Religion ausgesetzt. Im 11. Jahrhundert erlebte der Buddhismus den zweiten Aufbruch in Tibet. In dieser Zeit wurde der Karmapa-Orden gegründet, deren Anhänger auch Rotmützen genannt werden. Im Laufe der Jahrhunderte vergrößerten die Klöster vermehrt ihre Reichtümer. Äbte herrschten wie Fürsten. Mit Buddhas Lehren hatte dies wenig zu tun und so kam es zu einer Reformation, aus der die Schule der Gelugpa – die Schule der Tugendhaften – hervorging, deren Anhänger Gelbmützen genannt werden. Okkultismus und schwarze Magie wurden damit verboten und die Mönche mussten sich neben dem Zölibat auch wieder allen Regeln Buddhas unterwerfen. Dieser Orden brachte die Institution des Dalai Lama hervor, ebenso wie den Panchen Lama. Der Titel Panchen Lama bedeutet übersetzt „kostbarer Lehrer“. Dalai Lama und Panchen Lama sind die höchsten religiösen Würdenträger des tibetischen Buddhismus. Als der zehnte Panchen Lama 1989 verstarb, wurde wie nach dem Ableben eines Dalai Lama nach seiner Reinkarnation gesucht, welche das Amt als Nachfolge antreten sollte. Inkarnation bedeutet wörtlich „Verkörperung“, folglich gelten bedeutende Gelehrte im tibetischen Buddhismus als eine Wiedergeburt Buddhas oder Bodhisattvas. Dies sind Menschen, die eigentlich den Kreise der Wiedergeburt durchbrochen haben und in das Nirwana gelangen könnten, sich aber entschieden haben, wiedergeboren zu werden, um so ihr erlangtes Wissen weiterzugeben. Der Dalai Lama, ebenso wie der Panachen Lama, füllen also ebensolche Inkarnation aus. Nach dem Tod fährt der Geist in den Körper eines Neugeborenen, das nun gefunden werden muss. Dabei wird zunächst ein Orakel befragt, das Anzeichen zu dem Aufenthaltsort des neuen Lamas gibt. Delegationen werden dann zu Orten ausgesandt, welche zu der Beschreibung passen. Die Kinder im passenden Alter werden dann strengen Prüfungen unterzogen, in denen sie Alltagsgegenstände des verstorbenen Lamas eindeutig wiedererkennen und manchmal auch körperliche Merkmale aus der Vision des Orakels aufweisen müssen. Eine derartige Suche kann auch schon mal Jahre in Anspruch nehmen. Im Fall des Panchen Lama wurde am 14. Mai 1995 die Reinkarnation gefunden und vom Dalai Lama bestätigt. Daraufhin entführten die Chinesen nur drei Tage später den Panchen Lama samt seiner Familie und bestätigten stattdessen ein anderes Kind als Panchen Lama, um sich somit Einfluss auf die Wahl der Reinkarnation des Dalai Lama zu sichern. Der ursprüngliche Panchen Lama gilt somit als jüngster politischer Gefangener der Welt, während der Dalai Lama bekräftigt hat, dass er nach seinem Tod nicht wiedergeboren werden würde, damit die Chinesen nicht einen falschen Dalai Lama bestimmen, welcher chinesische und keine tibetische Interessen vertritt. Politik auf göttlicher Ebene.
Wir hatten die Möglichkeit, den Sitz des Panchen Lama ausführlich zu erkunden. Das Kloster Tashi Lunpo liegt an einem Berghang im Zentrum von Shigatse und wird heute noch von rund 600 Mönchen bewohnt. Das klingt eigentlich nach einer Menge. Wenn man aber bedenkt, dass im frühen 20. Jahrhundert noch fast 4000 Mönche im Kloster den Buddhismus praktizierten und auf den umliegenden fruchtbaren Böden Getreide anbauten, dann wirkt diese Zahl verschwindend gering. Auch hier hatte die Kulturrevolution ihre Spuren hinterlassen. Zwar wurde seitdem vieles wieder vollständig aufgebaut, die Mönche werden dafür aber streng von der chinesischen Regierung überwacht. Die Stadt selbst hat fast sämtlichen tibetischen Charme verloren und gleicht fast jeder anderen chinesischen Provinzstadt. Hier spürten wir auch nach langem das erste Mal wieder den Tourismus. Die Gegenden zuvor waren alle zu abgelegen, zu unsicher oder wurden unverständlicherweise als zu uninteressant empfunden. Tibet erfreut sich aber seit der Öffnung an steigenden Besucherzahlen. Trotzdem ist das Land schwer erreichbar und wird daher am ehesten über den Flughafen in Lhasa angeflogen. Durch Genehmigungen und den obligatorischen Führer wird das Reisen in Tibet schnell zu einer kostspieligen Angelegenheit, weswegen von Touristen hauptsächlich Ziele in und um Lhasa angesteuert werden. In diesem Radius werden auch verstärkt die in der Kulturrevolution zerstörten Klöster wieder aufgebaut, aber natürlich nicht für die Mönche, sondern für die Touristen, die somit viel kostbares Geld heranbringen. Die Mönche der Anlagen wirken dann oft wie Requisiten. Ich selber fühlte mich hier plötzlich nicht mehr wohl. Während ich zuvor staunend und andächtig durch die abgelegen Klosterräume geschlendert war, spürte ich den Gewissenskonflikt in mir. Zu gern hätte ich mich mit den Mönchen unterhalten, aber das hätte nicht nur sie, sondern auch unseren Führer in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht.