Rolf Stärk ist ein Globetrotter, wie er im Buche steht. Ob Sansibar, Syrien oder Spitzbergen: kein Weg war zu weit, kein Ziel zu ausgefallen, keine Herausforderung zu groß. Dutzende Länder rund um den Globus hat der Kölner in den vergangenen Jahrzehnten bereist, viele davon mit seiner Frau Ulrike und seinen beiden Hunden Vasco und Balou. Im Rahmen unserer neuen Serie „Fernsucht“ veröffentlichen wir alle zwei Wochen einen Auszug aus dem gleichnamigen E-Book, das noch 2019 erscheinen wird. Lesen Sie in Folge 4, wie Stärk und seine Gefährtin Ulrike eine Schiffsexpedition durch die Dschungellandschaft von Borneo unternehmen und dabei mit dem Volk der Dajak in Kontakt treten…
Eine nahe Verwandte der Komik ist auch die Vereinnahmung des Menschen durch scheinbar Übersinnliches und Zauberei, und das sollten wir reichlich auf Borneo oder Kalimantan, wie der indonesische Teil der Insel heißt, erfahren.
Eigentlich wären wir lieber nach Papua-Neuguinea geflogen, schon wegen der interessanten Penishülsen und der Schoßhund-Minischweinchen, mit denen viele Ureinwohner umherlaufen, aber das erwies sich als undurchführbar. Zum einen gab es zu der Zeit dort Unruhen und Entführungen, zum anderen hätte die Reise dorthin trotz der kurzen Entfernung wegen der vielen wirklich teuren Umwegflüge mit winzigen Flugzeugen fast zwölf Stunden gedauert. Nichtraucherflüge!
Stattdessen flogen wir also nach Balikpapan, der drittgrößten Stadt auf Kalimantan. Am Flugplatz sollten wir abgeholt und zum nahegelegenen Tenggarong gebracht werden, einer gottverlassenen Kleinstadt am Mahakam-Fluss, auf den wir es abgesehen hatten. Der Mahakam ist ein Dschungelstrom mit vielen Nebengewässern, der tief ins Landesinnere bis zu den Kopfjägerstämmen reicht, und war so recht nach unserem Geschmack. Wir hatten gelesen, dass man ihn mit gemieteten Booten befahren kann und buchten daher ein Boot. Nachdem sich die wenigen Fluggäste mit ihrem Gepäck verkrümelt hatten, standen wir einsam und ratlos herum. Niemand da. Was jetzt? Dann entdeckten wir einen Schicksalsgenossen, ebenso einsam und ratlos wie wir. Ein auffallend großer und kräftiger junger Mann, der ein Papptäfelchen trug. Ich schlenderte diskret an ihm vorbei und warf einen Blick auf das Täfelchen. „ETRÄNGRK“. Hm, was das wohl sein mochte. Ob er wohl auf jemanden mit diesem Namen wartete? Seltsam, viele Buchstaben, die in unseren eigenen Namen auch vorkommen. Und wieso stand da der deutsche Umlaut „ä“? Wir begannen zu ahnen: Das Schild galt uns. Die Sache klärte sich schnell auf. Der Ärmste hatte aus Bali ein total verstümmeltes Fax erhalten, von meinem wohlbeleumundeten Namen waren nur noch vier Buchstaben übrig gewesen, die hatte er aufgeschrieben und den Rest dazu erfunden. In Tenggarong gab es keinen Hafen, sondern eine lange Holzmole, an der die Mietboote dümpelten. Wir stellten fest, dass dort absolut nichts los war, und mich beschlich der Verdacht, dass das Ganze vielleicht ein Irrtum war, denn es schien nicht gerade Hochsaison zu sein. Aber nein, wir wurden in eines dieser Boote verladen und staunten nicht schlecht.
Foto: Alexandra k O/unsplash
Man stelle sich die „African Queen“ aus dem gleichnamigen Film mit Humphrey Bogart und Katharine Hepburn vor, allerdings leicht abgewandelt: ein etwa 20 Meter langes Holzboot, nicht von einer Dampfmaschine, sondern einem Diesel angetrieben. Es verfügte über zwei Decks, das untere war bis auf eine kleine Heckkajüte, die neben dem über dem offenen Wasser angeordneten Plumpsklo noch die Kombüse und eine Leiter zum Oberdeck beherbergte, rundum offen und mit einem zirka acht Meter langen Tisch mit 16 Stühlen ausgestattet. Im Bug befand sich der Ruderstand. Das Oberdeck ruhte auf Stahlpfeilern und war bis auf den Bugbereich geschlossen, hatte unverglaste Fenster und Klappläden, der lange Raum war mit an durchhängenden Bindfäden befestigten fadenscheinigen Vorhängen in sieben kleine Abteilungen gegliedert, auf dem Plankenboden befanden sich jeweils zwei bis drei Matratzen, über denen großlöchrige Moskitonetze baumelten. Uns dämmerte: Das waren also die Kabinen für die Kreuzfahrtpassagiere. Kreuzfahrt hatte ich mir irgendwie anders ausgemalt. Im Bugbereich gab es einen kleinen Balkon mit Holzbänkchen und Tisch, da konnte man unter einem Dächlein im Freien sitzen und in Fahrtrichtung gucken.
Die erste Nacht an Bord
Jetzt mussten wir also nur noch auf die Ankunft der übrigen Passagiere warten, dann konnte es losgehen. Immerhin nutzten wir als die ersten Ankömmlinge unsere Chance, uns im vordersten Vorhangabschnitt heimisch zu machen, unsere eigenen intakten Moskitonetze anzubringen (es wimmelte hier vor Malariamücken, und da wir Prophylaxe ablehnten, nahmen wir uns höllisch in Acht und rieben uns gründlich mit Autan ein, denn unser homöopathisches Schutzmittel, von einer weisen Freundin uns zum Abschied geschenkt, wurde von den Insekten als Götterspeise akzeptiert und gierig abgeleckt), unsere eigenen sauberen Seidenschlafsacküberzüge auf die Matratzen zu spannen und unser Gepäck zu verteilen. Unser Claim war damit abgesteckt, sollten sie doch kommen, die anderen. Die aber kamen erst gar nicht – was wir jedoch erst erkannten, als das Boot ablegte und wir zum Dinner gerufen wurden. Die Mannschaft hatte auf jedes Ende des endlos langen Tisches ein Gedeck drapiert und wir ließen uns ein wenig beklommen wie in einem britischen Schloss nieder. Was dann kam, war einfach umwerfend. Wir haben bis heute nicht verstanden, wie jemand auf so einem Kahn mit dessen erbärmlichen Möglichkeiten so köstliche Gerichte zubereiten konnte. Die Mannschaft stand während unserer Mahlzeit um uns herum und schaute gespannt auf jeden Bissen, den wir einnahmen und jeden Schluck, den wir tranken – ein ziemlich starkes Bier übrigens. Das alles war nicht sonderlich geeignet, unsere schweigende Befangenheit zu mildern, aber Schlückchen für Schlückchen wurde mir klarer, dass die Wesensverwandtschaft zwischen mir und Humphrey Bogart faszinierend und – soweit ich wusste – bisher niemandem groß aufgefallen war. Nur Ulrikes Doppelbild am fernen Tischende wollte mit der Kurzfrisur noch nicht so recht zu Katharine Hepburn passen.
Die Mannschaft übrigens war überschaubar: eine Köchin, ein Matrose (dessen Aufgabenbereich uns während der ganzen Fahrt rätselhaft blieb), der Kapitän, der das Boot steuerte (nahezu 24 Stunden täglich, wie uns schien) und unser imposanter Führer, der uns am Flugplatz erwartet hatte.
Mittlerweile war es Nacht geworden, Petroleumlampen warfen blakende Lichtflecken und wir verfügten uns mit gnädigem Dank fürs köstliche Mahl unter Beifall der Mannschaft mit würdigem Gehabe in unsere Oberdeckgemächer, wobei ich mir wohl die größte Mühe gab, heil dort anzukommen. Dort fingerten wir unsere Whiskyflasche aus dem Rollköfferchen, nahmen aneinandergeschmiegt auf dem Holzbänkchen Platz und blickten ergriffen auf den schwarzen Fluss, der unter uns von unserem Schiff zerteilt wurde. Dem Schiff von Humphrey und Katharine.
Ab und zu schaltete der Kapitän einen starken Scheinwerfer ein, um den Fluss nach treibenden Baumstämmen abzusuchen. Die waren riesig, entastet und geschält, hier wurde offenbar geflößt. Wehe, wenn das Boot von solch einem Brocken getroffen worden wäre! Am Morgen wuschen wir uns und bürsteten die Zähne mit Flusswasser, demselben Wasser, mit dem gekocht, gespült und in dem die Toilette entleert wurde und längst nicht die einzige Toilette, wie wir noch sehen würden.
Foto: Jorge Franganillo/unsplash
Ich war sehr zufrieden mit unserer Mannschaft, denn die war quietschvergnügt, sang viel und wurde immer zutraulicher. Die Nacht hatte sie übrigens zusammengerollt unter dem Tisch verbracht. Am zweiten Tag legten wir in Muara Muntai an, einer Siedlung, die gänzlich auf Pfählen errichtet im Wasser stand. Jedes Haus besaß zur offenen Flussseite hin ein Klohäuschen, ebenfalls auf Pfählen im Wasser. Das Besondere: Schon bei der Annäherung an den Ort sah man, dass hier die Toiletten mit gewaltigen Ziffern nummeriert waren, jedes Haus hatte also eine eigene Klonummer. Sie diente dem Briefträger, der die Post per Boot austrägt, als Orientierung, es handelte sich bei den Klonummern also im Wortsinn um Postleitzahlen. Die endlos lange, massiv holzbeplankte Hauptstraße stand natürlich ebenfalls auf dicken Pfählen und ich bemerkte entgeistert, dass hier jedes Haus, jedes Boot, jedes Brett und jeder Zahnstocher aus edelsten Tropenhölzern bestand, Mahagoni und Teak, natürlich auch die Hauptstraße und alle Pfähle. Während Ulrike mit Jägerblick durchs Dorf pirschte und alles prüfte, was als Souvenir hätte dienen können, stierte ich wie angewurzelt auf die Hauptstraße vor und unter mir und versuchte, grob den Außenhandelswert allein der Straße zu überschlagen. Junge, Junge, für das Ding hätte ich glatt jeden Vier-Tonnen-Gold-Buddha in Bangkok als Schmiergeld hergegeben.
Ein Leben fernab der Zivilisation
Wir stiegen in einen wackligen Einbaum mit Flachwasser-Antrieb und fuhren stundenlang auf winzigen, durch den Dschungel mäandernden Wasserläufen, pausierten in Jantur, einem auf einem See buchstäblich schwimmenden Fischerdorf und erreichten Mancong. Nun hatten wir endgültig die Grenzen unserer Gegenwartskultur verlassen und erreichten das Reich der Dajak, eines Kopfjägervolkes. Natürlich hat die Zentralregierung den Dajak bereits vor 70 Jahren den Spaß an der Kopfjägerei verdorben, aber es wird gemunkelt, dass in abgelegenen Bergregionen weiter flussaufwärts ab und zu diesem Brauch immer noch gehuldigt wird, wenn die Regierung mal wegschaut.
Die Dajak sind klein, sehr dunkelhäutig, haben breite Nasen und sind ziemlich spärlich bekleidet. Penishülsen waren allerdings nicht zu sehen. Aber immerhin gehen sie immer noch mit zwei Meter langen Blasrohren auf die Jagd, aus denen sie noch auf 25 Meter mit ihren Giftpfeilen treffen. Sie leben sippenweise in Langhäusern, die – natürlich – auf Pfählen stehen und in der Tat sehr lang sind. Ihre Toten begraben sie nicht, sie legen sie in hölzerne (Teak!) Schreine, die – natürlich – auf Pfählen stehen und einmal jährlich geöffnet werden. Dann holen sie die Knochen der teuren Verblichenen heraus, putzen sie blitzblank und legen sie wieder zurück. Außerdem sind sie Meister im Schnitzen von gewaltigen Totempfählen. Ein ehemaliges Langhaus war zu einem Touristenbasar umfunktioniert worden und nun saßen 20 bis 30 Dajak nebeneinander, vor sich je ein Häuflein Schnitzereien und anderes Kunsthandwerk und warteten geduldig, auf welches Häuflein unsere Wahl fallen wurde. Uns tat aufrichtig leid, dass wir nur zu zweit waren und natürlich die meisten der bescheidenen Händler enttäuschen mussten. Die Angebote unterschieden sich kaum voneinander, und so wanderten wir herum und kauften hier und da eine Figur oder einen Reislöffel. Zu gern hätte ich eines der langen Blasrohre erworben, aber der Gedanke an den Tumult beim Versuch, mit so einem Ding ein Flugzeug zu besteigen, hielt mich davon ab. Ich kaufte stattdessen einen verzierten Köcher mit Giftpfeilen, der war unauffälliger, wenn auch weit gefährlicher.
Foto: Victor Vazquez/unsplash
Ab jetzt fuhren wir tagelang flussaufwärts, ohne einer Menschenseele ansichtig zu werden. Jede Zivilisation und Ansiedlung lag weit hinter uns, die Flussufer kamen näher, der Himmel hatte sich dunkel bewölkt und eine seltsam drückende Stille umgab uns. Wenn Stille laut sein kann, dann war sie es jetzt. Die gute Laune unserer Besatzung war wie weggeblasen, sie schwatzten und scherzten nicht mehr und mit irritierendem Gebrüll trieb der Diesel das Boot durch die Schwärze. Immer wieder blickten unsere Begleiter scheu zum einen oder anderen Ufer, tauschten Blicke und flüsterten miteinander. Sie hatten Angst, kein Zweifel. Fürchteten sie etwa Blasrohrangriffe? Das konnte ja heiter werden. Selbst unser pfundiger Reiseleiter hockte mit bedrückter Miene hasenfüßig herum. Rundheraus sprach ich ihn auf die Sache an und er knetete die Hände. „Wir fahren jetzt durch das Reich des Bösen, denn das Böse braucht Ruhe und Einsamkeit und es wohnt hier“, druckste er. „Ab hier und weiter flussaufwärts“, erklärte er, „sind die Dajak noch nicht befriedet“.
Hier hatten ihre Zauberer und Medizinmänner noch ungebrochene Macht über die geheimsten Unergründlichkeiten der Natur und der Geisterwelt. Und vor allem über euch, dachte ich. Unsere Mannschaft glaubte fest an die animistischen Fähigkeiten der Dajakpriester, denen man zutraute, jeden lebenslang zu verzaubern und ihm Krankheiten anzuhexen. Der Bann ließ sich nur brechen, wenn man einen anderen Medizinmann fand, der ihn gegen hohe Bezahlung aufhob. Wie Voodoopriester konnten sie einen selbst auf größte Entfernung töten. Na, wenigstens keine Giftpfeile, dachte ich. Nach dem Dinner (ich hatte inzwischen zum Missvergnügen der Köchin durchgesetzt, dass wir am Tisch direkt beieinander sitzen durften) zogen wir uns in unsere Oberdeckfreiluftwhiskybar (welches Wort hätte es eher verdient, in Stein gemeißelt zu werden?) zurück und gaben uns schweigenden Betrachtungen hin. Hm, schon alles ein wenig unheimlich, was wussten wir mit unserer materialistischen Rationalität schon groß von dem, was hier so alles abging? Am Ende war noch was dran an der Geschichte, es gibt ja auch bei uns Sachen, die rational nicht einfach zu erklären sind, die Homöopathie zum Beispiel. Obwohl – die Mücken hier glaubten nicht an Homöopathie, wie die homöopathische Antimückentinktur unserer Freundin bewiesen hatte. Verflixt, man wusste überhaupt nicht mehr, an was man noch glauben sollte!
Der folgende Tag brachte uns nach Long Bagun, einem kleinen Dorf der Dajak, das am Oberlauf des Mahakam lag, der ab hier wegen der Stromschnellen nicht mehr schiffbar war. Wir waren jetzt 350 Kilometer stromaufwärts gefahren. Als erstes stand eine Dschungelwanderung auf dem Programm, eine traurige Angelegenheit, denn zunächst mussten wir die Brandrodungen der Dajak durchqueren. In jedem Jahr werden neue Gebiete des Urwaldes angezündet, um Äcker zu bewirtschaften, die schon ein bis zwei Jahre später nichts mehr hergeben, sodass neue Waldstücke abgefackelt werden. Schwarze Riesen, die zwar den Brand nicht überlebten, aber dennoch stehen geblieben waren, zeugten von der unsinnigen Vernichtung. Regenwald hat kaum fruchtbare Krume und seine Zerstörung ist nicht mehr umkehrbar. Noch schlimmer sieht es im noch intakt erscheinenden Dschungel aus: Gigantische Edelholzbäume mit Stammumfängen von zwölf Metern und mehr, oft über tausend Jahre alt, werden von den Timber-Companys gefällt und abtransportiert, um den Welthunger nach Teak und Mahagoni illegal zu stillen. Die Dajak verdingen sich für Hungerlöhne bei den Baumfällern und vergiften sich an den Chemikalien, die bei der Rohholzverarbeitung zum Einsatz kommen. Wir hatten todkranke junge Männer gesehen, deren schwarze Haut bis auf einige verbliebene Flecken weiß gebleicht war. (Das war 1996, ich wage nicht daran zu denken, was heute überhaupt noch von den Dschungeln Borneos übrig ist und von den Dajak, immerhin haben inzwischen chinesische Geschäftsleute die „Waldbewirtschaftung“ übernommen und das verheißt finalen ökologischen Untergang.)
Die Ansiedlung bestand jedenfalls aus einem einzigen Langhaus, in dem 32 Familien wohnten – ein ganzer Stamm – und ein paar Nebengebäuden. Das Langhaus erkletterte man über einen angelegten Baumstamm, in den stufenartige Kerben eingeschlagen waren. Aber bevor wir hinaufklettern durften, mussten wir eine Zeremonie über uns ergehen lassen, die mich außerordentlich verdutzte: Die Dajak waren, was ihren Körperbau betrifft, das Gegenteil von den vierschrötigen Riesen der Südsee, aber ihr Empfangsritual war fast deckungsgleich mit dem der Südseevölker und den über 4.500 Seemeilen entfernten Maori Neuseelands. Aggressiv dreinblickende Krieger (die hier allerdings nicht die Zungen herausstreckten) hielten die Ankömmlinge auf, die mit einem Satz in der Einheimischensprache aufzuwarten hatten, der „wir kommen in Frieden“ oder so ähnlich lautete, dann durfte man ein Band zerschneiden und eintreten. Wir stotterten den Satz und ich hoffte, dass er wirklich „wir kommen in Frieden“ hieß und nicht etwa „wir sind die Touristenärsche, auf die ihr so lange warten musstet“, jedenfalls machte mich die schlagartige Heiterkeit unter den Kriegern stutzig. Die Besiedlung der Südseeinseln durch die polynesischen Völker wurde stets als ein geografisches Dreieck im Pazifik beschrieben. Borneo kam da nicht vor. Wie aber war es möglich, dort Rituale vorzufinden, die nahezu exakt denen der Polynesier und Maori entsprachen?
Bei den Dajak: Eine denkwürdige Zeremonie
Wir wurden vom Ältesten willkommen geheißen und dann sogleich in den Stamm aufgenommen. Dazu mussten wir das Langhaus erklettern, in dem der Stamm mit Mann und Maus um uns herumtanzte. Häuptling und Medizinmann voran, dann die Krieger, die alten Männer, die Frauen, dann die kleinen Jungen, die kleinen Mädchen – bis hin zu den Dreijährigen tanzten sie alle eine Art Polonaise, während wir sturzverlegen herumstanden. Anschließend wurde zur Feier der beiden bleichen Neumitglieder ordentlich aufgetragen, es gab ein eigenartiges Buffet und gottlob auch selbstgebackene Kekse und Tee, denn ich hatte mich vor selbstgekautem Bier und in Ameisen eingelegtem Affenfleisch gefürchtet.
Glaubt man den Gerüchten, so wurde die Kopfjägerei in den Siedlungsgebieten der Dajak noch nicht gänzlich aufgegeben. Foto: Cristian Grecu/unsplash
Ich ahnte noch nichts vom Höhepunkt der Zeremonie, aber schon ging’s los: Der ganze Verein sang Lieder für uns und auch die erinnerten in ihrer vielstimmigen Raffinesse und Schönheit wieder an die Südseevölker. Dann verstummte der Chor, der Häuptling sprach feierlich in die Stille und alle Augen richteten sich auf uns. Unser Reiseleiter übersetzte in mein Ohr, dass nun die neuen hochgeschätzten Clanmitglieder für den Stamm singen sollten. Wir erbleichten und ich dachte an die schrecklichen Zauberkräfte des Medizinmannes. Singen! Ausgerechnet! Hätte man mich nicht lieber bitten können, einen Wasserfall hinunter zu springen? Mein Adrenalinspiegel flutete das Langhaus. Welches Lied und welchen Text kann ich denn überhaupt? Und was kann Ulrike? Ein Seitenblick auf ihre versteinerte Gestalt verriet, dass auch sie nicht in der Stimmung war, uns die Nachtigall zu geben. Und doch, gerade in aussichtslosen Augenblicken funktioniert das Hirn wie ein Computer, und Not gebiert Großes. Ein kurzes, verständiges Nicken und furchtlos schmetterten wir los: „Mier sinn kölsche Mädscher, hann Schpitzebötzje aan, mer losse uns nit dran fummele, mer losse kejne draan…!“. Dazu schunkelten wir wie ein ganzer Elferrat. Frenetischer Beifall toste auf. Das ganze Auditorium ahmte Schunkelbewegungen nach und kriegte sich gar nicht mehr ein. Wir waren die Shootingstars von Zentral-Kalimantan.
So etwas beflügelt auch bescheiden zurückhaltende Temperamente wie mich, und ich beschloss, den guten Leuten eine Zugabe zu gönnen, nämlich den Aschetrick. Er besteht darin, aus einem Aschefleck in einer Faust einen zweiten Aschefleck in die andere geschlossene Faust des Probanden zu zaubern, ohne die Fäuste zu berühren. Das ist wirklich verblüffend und der Knüller auf jedem Kindergeburtstag. Ich bat also einen Krieger zu mir und schaute ihm – Ablenkung ist der halbe Zaubertrick – hypnotisch in die Augen. Das Langhaus hielt den Atem an und hätte es Stecknadeln gegeben, ihr Fallen wäre donnernd gewesen. Mitten in meinen Hokuspokus hinein hörte ich Ulrike auf unnatürliche Weise husten. Sie hustete und hüstelte und hörte nicht mehr auf, sich zu räuspern. Ärgerlich über diese Taktlosigkeit blickte ich auf und erstarrte. Um mich herum finstere Gesichter, die Krieger hatten zu ihren Waffen gegriffen und der Medizinmann verschoss Blicke unverhohlenen Hasses. Ich Vollidiot! Das sind Animisten! Die glauben den Quatsch! Stärk, was machst du da gerade! Blitzschnell brach ich die Nummer ab und zeigte, wie der Trick funktioniert. Nach einer Sekunde der Verblüffung brach ein Riesengelächter aus und der Häuptling klatschte sich tränend auf die Knie. Puh, gerettet, so etwas würde ich nie wieder tun, versprochen. Wir wurden herzlichst verabschiedet, nur der Medizinmann schaute noch voll nachdenklicher Tücke hinter mir her, das spürte ich schmerzhaft in meinem linken Schulterblatt. Zwei Jahre später würde ich einen Herzanfall erleiden.
Natürlich ist mir jeder Aberglaube fremd. Auf Reisen – und wirklich nur, wenn ich auf Reisen bin – trage ich ein Amulett. Es ist ein Anhänger aus einem hübsch geschnitzten Knochenstück in gefälliger Form, das ich um den Hals trage und das jeder Neuseelandreisende sofort als Maori-Souvenir erkennt. Es wird zahllos an Touristen verkauft, absolut nichts Besonderes, und ich weiß nicht einmal, welche Bedeutung die Maori dem Amulett einst zuwiesen. Weit entfernt davon, mich von dem lächerlichen kleinen Schmuckstück etwa beschützt zu fühlen, achte ich peinlich darauf, es stets auf immer dieselbe Weise umzuhängen, denn es umgedreht auf der Brust zu tragen, verursacht mir Unbehagen. Einmal habe ich es zu Hause vergessen und habe keine Ruhe gelassen und allerlei verzwickte Arrangements organisiert, damit eine unserer Besucherinnen es mir von daheim mitbringen konnte. Dazu passte natürlich, dass ich als Atheist bereits in meiner Jugend aus der Kirche ausgetreten war. Am Nachmittag trat unser Boot die schnelle Heimreise an und nach zwei Tagen passierten wir die vertrauten nummerierten Klohäuschen.