Rolf Stärk ist ein Globetrotter, wie er im Buche steht. Ob Sansibar, Syrien oder Spitzbergen: kein Weg war zu weit, kein Ziel zu ausgefallen, keine Herausforderung zu groß. Dutzende Länder rund um den Globus hat der Kölner in den vergangenen Jahrzehnten bereist, viele davon mit seiner Frau Ulrike und seinen beiden Hunden Vasco und Balou.
Im Rahmen unserer neuen Serie „Fernsucht“ veröffentlichen wir alle zwei Wochen einen Auszug aus dem gleichnamigen E-Book, das noch 2019 erscheinen wird. Lesen Sie in Folge 3, wie Stärk und seine Gefährtin Ulrike nach ihrer Fidschi-Reise einen Abstecher nach Hongkong machen und auf kulinarische Entdeckungsreise gehen…
Bevor ich Hongkong kennengelernt hatte, hielt ich unter allen Weltmetropolen eindeutig New York für die attraktivste. Nun aber hatte Hongkong, damals noch als Kronkolonie Ihrer britischen Majestät, gute Chancen, zur Favoritin aufzusteigen.
Wer dort mitternächtlich über Märkte geschlendert ist, das Gewusel auf den Gewässern beobachten durfte, auf einem Sampan geschaukelt ist und eine Besichtigungstour durch die Insel im Obergeschoß der Doppeldeckerstraßenbahn unternommen hat, weiß, wie es uns dort erging. Und wer könnte je den Anblick der Insel vergessen, der sich von der Cocktailbar im obersten Geschoss des Peninsula-Hotels in Kowloon im Abendrot bietet?
Das „Regent of Fidji“ – ein angenehmes, aber unprätentiöses Hotel – hatte uns in Suva beherbergt und so hatte ich schon dort das „Regent of Hongkong“ gebucht. Der kleine indische Hotelmanager in Suva erzählte stolz, das „Regent of Hongkong“ sei das Flaggschiff der Hotelgruppe. Am Flughafen überraschte uns ein livrierter Chauffeur, der ein Pappschild mit unseren reichlich unkorrekt geschriebenen Namen trug. Hoppla, was für ein Empfang! Er schnappte sich unsere Rollköfferchen und wir folgten ihm zu einer mächtigen Limousine. Erst als die Köfferchen im Auto verschwunden und wir auf die Rückbank komplimentiert worden waren, wagte ich, den ersten Gedanken zu fassen.
Hongkong lockt mit einer Vielzahl von kulinarischen Highlights. Foto: Frank Zhang/Unsplash
Wir saßen in einem Rolls Royce, der geräuschlos kraftvoll anfuhr und wir schauten uns beklommen an. Verdammt, das war wohl ein Fehler, hier das „Regent“ zu buchen. Es war in der Tat ein Fehler, der schleunigst korrigiert wurden musste. Zwar schien mir in Hongkong ungefähr jedes zwanzigste Auto ein Rolls Royce zu sein, aber eben nur jedes zwanzigste. Der Wagen hielt vor einem Palast, der direkt auf einer Landzunge gelegen, den prominentesten Platz von ganz Kowloon beanspruchte. An der Rezeption belehrte mich ein Blick auf die Preistafel, dass wir unversehens in einem Hotel der Aga-Khan-Kategorie gestrandet waren, das es auf der Stelle zu verlassen galt. Wir tauschten einen Blick, rafften unsere Rollköfferchen und türmten. Während wir ziellos durch die Straßen liefen und uns ab und an mit gehetzten Schulterblicken vergewisserten, nicht etwa von einem Rolls Royce verfolgt zu werden, stießen wir auf ein eingerüstetes und etwas schäbiges „Holiday Inn“, das uns entschieden standesgemäßer vorkam.
Es stellte sich als freundlicher und durchaus bezahlbarer Laden heraus. Allerdings pflegte auch dieses Hotel wieder eine Unart, die nach meinem Eindruck weltweit verbreitet war: Überall fanden sich in den Badezimmern offensichtlich verheuchelte Hinweise, die ungefähr so lauteten: „Lieber Gast, bitte bedenken Sie, wie viele Tenside und andere Schadstoffe täglich in unser Trinkwasser eingebracht werden, weil weltweit Millionen von Handtüchern in Hotels gewaschen werden. Wenn Sie das nicht wollen, dann hängen Sie ihr Handtuch auf, das bedeutet: „Ich benutze es weiter.“ Im anderen Fall werfen Sie es auf den Boden, dann erhalten Sie ein frisches“. Ich verdächtige die Hotelmanager, dabei weniger die Umwelt als die Kostenersparnis im Blick zu haben. Dennoch hängten wir stets unsere Handtücher zur Umweltpflege entschlossen wieder auf die Stange. Und was passierte? Nur dreimal in all den Jahren war es geschehen, dass die Handtücher nicht ausgewechselt wurden, ein echtes Mysterium.
Das Gerüst um das Hotel hatte es mir angetan. Es bestand wie alle Hochhausgerüste in ganz China aus zusammengebundenen Bambusstangen und sah schrecklich windschief aus. Auf diesen Stangen balancierten Myriaden von Handwerkern, die eifrig malten, kachelten und klopften. Ich fotografierte all diese Gerüste immer wieder, um sie daheim der Bauaufsicht, diversen Berufsgenossenschaften und dem TÜV unter die Nase halten zu können (was natürlich nie geschehen ist), die einer Jahrtausende alten Kultur mit so laxen Sicherheitsvorschriften wohl kein halbes Jahr gegeben hätten.
Die unzähligen Restaurants in Hongkong haben zum Teil bis spät in die Nacht geöffnet. Foto: Khachik Simonian/Unsplash
Wir kriegten nicht genug von dieser Stadt und nahmen uns vor, sie immer mal wieder zu besuchen. Tagelang schlenderten wir durch die Straßenschluchten mit ihren vielgestaltigen Wolkenkratzern, zu deren Erdgeschossen das Menschengewimmel, die Verkaufsstände und Garküchen ein Kontrastbild wie aus dem China des 19. Jahrhunderts bildeten. Und selbst an den Wolkenkratzern war das alte China nicht spurlos vorbeigezogen, denn viele waren von eigenartigem Aussehen, das an traditionelle Bauformen und herkömmliche Formensprache erinnerte. Hieß das Architekturgesetz der klassischen Moderne im Westen „Form Follows Function“, so galt hier „Form Follows Feng Shui“. Selbst der mächtigste Investor – wollte er nicht scheitern – konnte es sich nicht leisten, in Hongkong ein Gebäude zu errichten, ohne zuvor einen Feng-Shui-Meister zu Rate zu ziehen, denn alle Nutzer hätten sich geweigert, es zu betreten, wenn es etwa „auf der Nase des Drachen“ erbaut worden wäre. So kam es vor, dass in einem Hochhaus auf luftiger Höhe ein gewaltiges Loch offen gelassen wurde, um den freien Blick des Drachen auf die Bucht von Kowloon nicht zu versperren.
Eines Nachmittags fassten wir den Entschluss, einen Ausflug in die New Territories und an die Grenze der Volksrepublik zu unternehmen, und ich bat den Portier, uns ein Taxi zu rufen. Sofort fuhr ein dunkler Wagen vor, dessen Türen mit „Holiday Inn“ beschriftet waren. Wir stiegen ein und seufzten. Das Auto war ein Mercedes 600 mit zwölf Zylindern. Es ging hier wohl nicht anders.
Hongkong: Eine Stadt voller kulinarischer Highlights
Die Stadt war voller außergewöhnlicher kulinarischer Angebote, die es zu probieren galt. Eine echte Pekingente in einem erstklassigen Restaurant (nicht das erbärmliche Geflügel, das außerhalb Chinas unter dieser Bezeichnung verhökert wird) sollte den Anfang machen. Wir hatten von der aufwändigen Zubereitung dieser Speise gelesen (so wird beispielsweise Luft zwischen die Haut und das Fleisch gepumpt, um beides voneinander zu trennen) und suhlten uns in wohliger Erwartung dieser Kostbarkeit, die natürlich ihren Preis haben musste. Nach allerlei Vorspeisen und Leckereien, deren Ursprung für uns dunkel blieb, wurde von zwei Kellnern auf einem mächtigen Silbertablett die Ente aufgetragen und zur Begutachtung präsentiert. Ein prächtiger Vogel. Sodann säbelten sie mit großen, offenbar sehr scharfen Messern in kleinen Schnitzeln rundum die Haut herunter, die sie auf ein weiteres Silbertablett drapierten. Sodann wurde ein dampfendes Bastkörbchen wie ein Kronjuwel aufgetragen und die gehäutete Ente mit vielen Verbeugungen und guten Wünschen weggebracht. Nanu? Wir blickten ratlos unserer Ente hinterher. Vorsichtig lupfte ich den Bastkörbchendeckel. Dort stapelten sich weißliche handtellergroße und sehr dünne Pfannküchlein oder Blinis, soweit wir erkennen konnten.
Was nun? Der Oberkellner stürzte herbei und zeigte uns, was zu tun war: Man hatte ein Hautstückchen auf ein Küchlein zu applizieren, dieses dann zu falten oder einzurollen (mit Stäbchen!) und – auch dieses wurde mimisch vorgeführt – mit entzückt verdrehten Augen und begeisterten Grunzlauten in den Mund zu schieben. Er zeigte uns sogar, wie man kaut.
Genau so machten wir’s – und auf der Stelle wurde uns schlecht. Die ungesalzenen Blinis schmeckten nach absolut gar nichts, die Entenhaut hingegen verströmte einen tranigen Geruch, ihre Konsistenz gemahnte an schlecht zubereiteten knorpelartigen Tintenfisch und der Geschmack war so übel, dass wir nacheinander zu den Toiletten verschwanden, um auszuspucken. Der Oberkellner zeigte sich untröstlich und verschlang prüfungshalber etliche Portiönchen, nicht ohne die Augen wie bereits vorgeführt zu verdrehen und zu grunzen. Ihm schmeckte es und er fand nichts auszusetzen. Wir glaubten ihm gerne und erklärten mit großer Geste, dass dieses ohne Zweifel unvergleichliche Gericht dem Olymp chinesischer Kochkunst entstamme, unsere kulturlosen Gaumen und nichtsnutzigen europäischen Mägen seiner indes bedauerlicherweise unwürdig seien und bestellten, um etwas gegen den schlimmsten Hunger zu unternehmen, zwei Frühlingsrollen, die uns mit undurchdringlicher Miene aufgetragen wurden, und die zwar auch anders als erwartet schmeckten, aber immerhin ihrer Bestimmung gerecht wurden. So schnell aber geben Globetrotter nicht auf.
Foto: Arnie Chou/Unsplash
Entweder schaffte die chinesische Küche uns, oder wir schafften die chinesische Küche. Damals wussten wir noch nicht, dass es eine einheitliche chinesische Küche ebenso wenig wie eine einheitliche italienische, französische oder deutsche gibt und dass die in Hongkong durchaus eigenständig ist und meist nicht ganz korrekt als kantonesisch bezeichnet wird. Für den nächsten Anlauf wählten wir ein noch exklusiveres und – kaum vorstellbar – teureres Etablissement und scheiterten bereits an der Speisekarte: Gebackenes Schweineblut im Dumpling – der chinesischen Antwort auf den italienischen Tortellino – als Vorspeise erschien uns zwar vorstellbar, aber gedämpfter Hirschpenis? Gesalzener Krötenlaich süß-sauer? Hundehoden auf Kantonart? Familienglück aus Entenfüßen? Neunzehn Köstlichkeiten im eingelegten Ziegenuterus? Wir wissen, wann wir uns geschlagen zu geben haben und begossen unsere Niederlage mit einem wirklich köstlichen Schnaps mit eingelegten Salamanderschwänzen. Hongkong war zumindest damals die Drehscheibe für die weltweit billigsten Flugtickets überall hin, und da wir ohnehin beschlossen hatten, öfter mal wiederzukommen, wollten wir jetzt erst einmal das nächste Ziel ansteuern.
Fliegen ist eine merkwürdige Sache. Es ermöglicht einerseits, in schwindelerregend kurzer Zeit selbst die entferntesten Orte zu erreichen, aber andererseits führt es zu einer Lebenszeitverschwendung, die ihresgleichen sucht. Ich habe nicht gezählt, wie viele hundert Stunden ich wartend auf Flugverbindungen verbracht habe, es müssen viele sein. Das Groteske entsteht aus dem abrupten Wechsel zwischen absolut inhaltsleerem Stillstand und unfassbarer Geschwindigkeit. Während der endlosen Warterei in einem Umfeld totaler Aktivität drängen sich Betrachtungen über die Fragwürdigkeit des Fortschritts-Positivismus auf: Wäre es nicht schöner, an Deck eines Schiffes, das vier Tage von Hamburg nach New York fährt, auf das Meer oder in den Sternhimmel zu schauen und dabei allerlei philosophische Betrachtungen anzustellen, als hier in der Abflughalle einen Cappuccino nach dem anderen zu trinken, ohne sich auf das Lesen eines Buches einlassen zu können, aus Furcht davor, eine Änderung des Flugplans auf den Bildschirmen zu verpassen?